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Freedom Day: Corona-Politik ist an Kurzsichtigkeit nicht zu überbieten

Hope, Positive Mind for Coronavirus Concept. Hand Raised Up a Smiling Medical Mask into the Blue Sky. Gesture means Goodbye. Take Off Mask and Deep Breathing for Fresh Air
Die Masken fallen.Bild: iStockphoto / BlackSalmon
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Freedom Day: An Kurzsichtigkeit nicht zu überbieten

20.03.2022, 16:06
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Die Pandemie ist tot.

Es lebe die Pandemie.

Die Inzidenzen haben wieder einmal einen Höchststand erreicht. Wenige Tage bevor fast alle Maßnahmen laut Bundesgesetz fallen, klettert die 7-Tage-Inzidenz auf 1.651.

In früheren Corona-Wellen hat ein Bruchteil dieses Wertes für einen knallharten Lockdown gereicht. Klar, da waren weniger Menschen geimpft und der Verlauf der damaligen Variante war schwerer, als er bei Omikron in den meisten Fällen für geimpfte Menschen ist.

Einen Lockdown brauchen wir deshalb aktuell natürlich nicht.

Und die verfügbaren Krankenhausbetten lassen weitere Klinikaufenthalte auch zu – noch.

"Die freiheitsliebende FDP hat ihren Stiefel durchgezogen."

Nach Angaben der Deutschen Krankenhausgesellschaft arbeiten die Kliniken weiterhin am Limit. Dort kommen gerade einige Probleme zusammen: Die Intensivstationen laufen langsam voll, ebenso die Normalstationen. Das Personal hingegen ist ausgedünnt, weil viele mit Corona infiziert und in Quarantäne sind.

Quasi alle Maßnahmen aufzuheben, während die Infektionszahlen auf einem Rekord-Hoch sind, ist eine fragwürdige Reaktion.

Der Grund dafür ist einfach: Die gesetzliche Grundlage, mit der die Ampel-Parteien die Bundesnotbremse abgelöst haben, läuft am 19. März aus. Zu einem Folgegesetz, das auch nach dem Frühlingsanfang stärkere Maßnahmen auf Bundesebene rechtfertigt, konnten sich die Koalitionäre nicht durchringen. Die freiheitsliebende FDP hat ihren Stiefel durchgezogen – zum Verdruss der Koalitionspartner.

"Aber kein Gesetz wäre sehr viel schlechter gewesen als dieses Gesetz", fasst die Grünen-Politikerin und Gesundheitsexpertin Kirsten Kappert-Gonther die neue Rechtsgrundlage zusammen. Überzeugung klingt anders.

Statt des "Instrumentenkastens", wie Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) das bisher geltende Gesetz genannt hat, gibt es nun nur noch eine abgespeckte Version. Sie soll es den Bundesländern zwar ermöglichen, Maskenpflicht und G-Regeln zurückzuholen. Aber nur, wenn diese das ganze Land, Kommunen oder Stadtteile als Hotspot ausrufen. Darüber muss das jeweilige Landesparlament abstimmen. Allerdings gibt es bisher Unklarheiten, was genau eine Region erfüllen muss, um als Hotspot zu gelten.

Wie die "FAZ" schreibt, soll das auf Gebiete zutreffen, in denen "die konkrete Gefahr einer sich dynamisch ausbreitenden Infektionslage besteht." Im Fall von Virusmutationen etwa, oder wenn die Inzidenzen in abstruse Höhen steigen. Das Bundesjustizministerium sieht die Hürden dieser Regelung als hoch an.

Immerhin gibt es für die Bundesländer eine Übergangsfrist bis Anfang April. Und die meisten wollen davon Gebrauch machen. Insgesamt aber haben sie durch das neue Gesetz in Zukunft nur noch begrenzte Möglichkeiten, Maßnahmen zu ergreifen.

Und so enden die G-Regeln und die Masken fallen – pünktlich mit der Entdeckung der Deltakron-Mischvariante. Eine Corona-Mutation, die sowohl Elemente der Delta-Variante, als auch der Omikron-Variante in sich trägt. Bisher gibt es erst wenige bestätigte Fälle dieser Variante, ob und wie gefährlich sie letztlich sein wird, ist noch unklar.

18.03.2022, Berlin: Karl Lauterbach (SPD), Bundesminister f�r Gesundheit, spricht im Plenum im Bundestag in der Debatte zum Infektionsschutzgesetz. Foto: Michael Kappeler/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach.Bild: dpa / Michael Kappeler

"Die Lage ist viel schlechter als die Stimmung", hat der Gesundheitsminister Karl Lauterbach gesagt.

Ja, na klar!

Die Stimmung kann ja nur gut sein, wenn auf Bundesebene massiv gelockert wird. Wenn so der Eindruck vermittelt wird, die Pandemie sei vorbei. Die Endemie sei da. Selbst wenn es so wäre, könnte man fragen: Müssen Menschen nicht vor einer Krankheit geschützt werden, wenn diese nur im eigenen Land grassiert?

Doch. Müssen sie.

"Viele derer, die bis heute eine Impfung verweigern, die an Montagen gegen eine vermeintliche Diktatur und das "Terrorregime Deutschland" demonstrieren verhalten sich seit Ausbruch der Pandemie primitiv."

Und ist es dann zu viel verlangt, die Masken in Läden des täglichen Bedarfs beizubehalten? Nein, ist es nicht.

Denn auch Menschen mit Vorerkrankungen müssen einkaufen können. Menschen, die sich nicht impfen lassen können. Menschen, mit kleinen Kindern, die noch nicht geimpft werden können. Und klar ist auch: Die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung nimmt umso stärker ab, je mehr Beteiligte eine FFP2-Maske tragen!

Auch die G-Regelungen könnten beibehalten werden, denn anders als Vorerkrankte haben die Ungeimpften die Möglichkeit etwas gegen diesen Status zu tun: indem sie sich impfen oder testen lassen.

Viele derer, die bis heute eine Impfung verweigern, die an Montagen gegen eine vermeintliche Diktatur und das "Terrorregime Deutschland" demonstrieren (ein Vorwurf, der in Zeiten eines russischen Angriffskrieges noch makaberer ist als er es die vergangenen beiden Jahre war) verhalten sich seit Ausbruch der Pandemie primitiv. Und sie werden ihr Verhalten erst recht nicht solidarischer gestalten, wenn auch noch der letzte gesetzliche Zwang gefallen ist.

Gesundheitsminister Lauterbach sagte über diese Menschen in der Bundestagsdebatte zur Impfpflicht, dass eine Minderheit die Mehrheit in Geiselhaft nimmt.

Und damit hat er komplett recht.

"Mit diesem Freedom Day wird die Verweigerungshaltung einiger weniger dazu führen, dass eine große Zahl an Menschen weniger frei sein wird."

"Die Freiheit besteht darin, dass man alles das tun kann, was einem anderen nicht schadet", hat der deutsche Dichter Matthias Claudius einmal gesagt. Und diese Maxime müsste auch heute gelten.

Andere Menschen, die sich freiwillig selbst gefährden, müssen per Gesetz Rücksicht auf den Rest der Bevölkerung nehmen, das gilt zumindest jenseits von Viruserkrankungen. Raucher zum Beispiel. Nichtraucherschutz lautet dort die Devise. Im ÖPNV darf nicht geraucht werden, im Krankenhaus, im Büro, im Einzelhandel auch nicht. Die Ausnahme bilden Raucherräume. Und auch in Restaurants und vielen Kneipen muss der Glimmstängel draußen bleiben.

Schild zum definieren einer rauchfreien Zone Kiel Düsternbrook Schleswig-Holstein Deutschland *** Sign to define a smoke-free zone Kiel Düsternbrook Schleswig Holstein Germany
Nichtraucher werden per Gesetz geschützt. Bild: www.imago-images.de / Petra Nowack

Ähnlich sieht es beim Jugendschutz aus: Pornos zum Beispiel oder krasse Horrorfilme dürfen nur nachts im Free-TV laufen. Schnaps darf erst ab 18 Jahren gekauft werden, gleiches gilt für Zigaretten.

Von der Helm- und Gurtpflicht im Auto und auf dem Motorrad ganz zu schweigen.

Deutschland: Land der Unfreiheit.

Es sei denn, es geht um die Masken, die Leben retten können.

Mit diesem "Freedom Day" – ganz egal, ob es am Ende tatsächlich einer ist oder nicht – wird die Verweigerungshaltung einiger weniger dazu führen, dass eine große Zahl an Menschen weniger frei sein wird. Und auch das Schielen in die Nachbarländer, die bereits mit der Pandemie abgeschlossen haben, hilft da nicht viel. Ein beliebtes Argument: In Dänemark ist die Zahl der nachgewiesenen Infektionen nach dem Freedom Day extrem gesunken.

Das stimmt.

Allerdings erst, nachdem sie vorher so sehr in die Höhe geschossen sind, dass beispielsweise Kitas geschlossen bleiben mussten, weil alle Erzieherinnen in Quarantäne saßen. Die Zahlen sind heute außerdem so niedrig, weil kaum noch getestet wird. Frei nach dem Motto: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.

"Zehn bis 15 Prozent der Menschen, die sich mit Corona infiziert haben, leiden an Long Covid."

Ähnlich sieht es in Großbritannien aus: Seit dem Ende der Maßnahmen steigen die Infektionszahlen sowie die Krankenhauseinweisungen. Lediglich die Todeszahlen bleiben stabil.

In anderen europäischen Staaten ist die Pandemie übrigens noch nicht vorbei: Italien, Griechenland und Spanien behalten die Maskenpflicht in Innenräumen bei.

Ein Blick raus aus Europa und rein nach Asien zeigt außerdem: Omikron kann sehr wohl gefährlich sein. Und zwar für ältere Menschen, die nicht geimpft sind. Das zeigt das Beispiel Hongkong gerade sehr eindringlich. Dort sterben gerade so viele Menschen an Corona, wie die ganze Pandemie noch nicht. Die meisten der Toten waren nicht vollständig geimpft. Insgesamt ist die Impfquote dort zu gering und viele Menschen sind mit dem chinesischen Impfstoff geimpft, der nicht so wirksam ist.

Der Virologe Christian Drosten sieht in Deutschland ein ähnliches Desaster anrollen. 22 Prozent der über 60-Jährigen haben hierzulande noch nicht ihre Booster-Impfung erhalten.

Ganz unabhängig von den Todeszahlen – bei denen natürlich die interessante Debatte geführt werden kann, wie viele Menschenleben ein FFP2-maskenfreies Leben wert ist – auch das Long Covid Risiko bleibt mit Omikron bestehen. Zehn bis 15 Prozent der Menschen, die sich mit Corona infiziert haben, leiden an Long Covid. Manche ein paar Wochen, andere Monate, andere noch länger.

18,4 Millionen Coronainfektionen gab es in Deutschland bereits.

GERMANY, FRANKFURT - OCTOBER 13: Frankfurt Book Fair 2018. Margarete Stokowski, Polish-German author and columnist (female).
Autorin Margarete Stokowski leidet an Long Covid.Bild: Ulrich Baumgarten / Ulrich Baumgarten

Die Autorin Margarete Stokowski gehört zu den zehn bis 15 Prozent. Und sie hat gerade in ihrer Kolumne im "Spiegel" eindrücklich beschrieben, was Long Covid in ihrem Fall bedeutet:

"Falls es Sie interessiert: Ich habe jetzt seit knapp zwei Monaten täglich Kopfschmerzen und bin von jeder Kleinigkeit erschöpft, ich habe immer wieder Schwächeanfälle für mehrere Stunden und dazu ein fiebriges Kribbeln, null Hunger oder Appetit, mein Gehirn funktioniert nicht richtig (Vergesslichkeit, Konzentrations-, Wortfindungsstörungen), und ich schlafe oft 14 Stunden und bin danach absolut nicht erholt, sondern genauso kaputt wie am Tag davor, und nein, Kaffee hilft da nicht und grüner Tee auch nicht."

Auf diese oder ähnliche Symptome können sich also zehn bis 15 Prozent der Genesenen freuen.

Mild ist anders.

Das einzige, das gegen Long Covid hilft: Eine Infektion vermeiden. Wie eine Infektion vermieden werden kann: Testen und die Maske tragen.

"Höchste Zeit also, den Sommer zu nutzen und sich nicht von Menschen mit einem aus der Zeit gefallenen Freiheitsbegriff durch die Republik treiben zu lassen."

Vor die Welle kommen. Das ist der Slogan, der uns seit Beginn der Pandemie begleitet. Geschafft haben wir es bisher noch nicht. Vielmehr scheint Deutschland in jede Welle sehenden Auges hinein zu rennen. Und auch jetzt ist die Politik an Kurzsichtigkeit nicht zu überbieten.

Mit einem verfrühten Freedom Day, ohne das Thema Impfpflicht abschließend geklärt zu haben, tun wir dem Virus einen Gefallen. Und wie Karl Lauterbach es am Donnerstag im Bundestag ausgedrückt hat: Die Herbst-Welle kommt so sicher wie die Jahreszeit. Diese Meinung teilt das Robert-Koch-Institut.

Höchste Zeit also, den Sommer zu nutzen und Regularien und Tatsachen zu schaffen, die einen tatsächlichen Freedom Day bedingen können – auch wenn das bedeutet, einfach mal keine vorschnellen und kopflosen Entscheidungen zu treffen und sich nicht von Menschen mit einem aus der Zeit gefallenen Freiheitsbegriff durch die Republik treiben zu lassen.

Die Pandemie ist tot.

Es lebe die Pandemie.

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