Hinsetzen soll sich hier keiner mehr – zur Vermeidung einer weiteren Virus-Ausbreitung. Bild: dpa
Deutschland
Der Coronavirus schafft eine Situation, in der so einige Selbstverständlichkeiten ins Wanken geraten. Wie lang müssen Menschen in Deutschland mit den Einschränkungen leben?
Freunde und Familie im Zweifel lieber anrufen als
persönlich treffen, große Gruppen meiden und so viele Aktivitäten wie
möglich in die eigenen vier Wände verlegen – die Ansagen von Ärzten
und Politik sind deutlich.
Schulen bleiben dicht, viele Geschäfte und
Freizeitangebote ebenso. Um die schnelle Verbreitung des Virus
zu stoppen, müssen viele Menschen Alltag und Gewohnheiten umkrempeln.
Die Einschränkungen werden in den kommenden Tagen oder Wochen eher
schärfer als lockerer, tippt der Virologe Christian Drosten von der
Berliner Charité im NDR-Podcast. Viele fragen sich, wie lang sie denn
nun in der Ausnahmesituation leben müssen.
Abschottung womöglich mehrere Wochen
John Ziebuhr vom Institut für Medizinische Virologie der
Justus-Liebig-Universität Gießen rechnet damit, dass die
Empfehlungen, soziale Kontakte auf ein Mindestmaß zu beschränken, für
mindestens vier bis fünf Wochen gelten werden – "vielleicht auch ein
paar Wochen länger. Das halte ich für eine sinnvolle Größenordnung,
um die Situation neu beurteilen zu können", sagte der Infektiologe.
Schul- und Kitaschließungen gelten in der Mehrzahl der Bundesländer
zunächst bis zum Ende der Osterferien, also bis Mitte oder Ende
April.
Bereits vor einigen Tagen hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn
(CDU) gesagt, dass sich alle Bürger auf längere Einschränkungen im
Alltagsleben vorbereiten müssten. "Wir reden deutlich über mehrere
Monate als über mehrere Wochen", sagte der CDU-Politiker.
Richtige Maß für Deutschland finden
Es sei eine Illusion, zu glauben, dass nach den Osterferien alles
wieder seinen ganz gewohnten Gang nehmen werde, sagte der Virologe
Jonas Schmidt-Chanasit dem Fernsehsender Ntv: "Wir reden hier immer
über einen Zeitraum von mehreren Monaten, wo wir mit diesen
Einschränkungen leben müssen."
Es komme jetzt darauf an, das richtige
Maß für Deutschland zu finden. Das könne noch keiner sagen, was das
sein wird. In den nächsten Tagen und Wochen werde man "sehen, wie die
Stellschrauben auch wieder etwas gelockert werden können und wie das
Gesundheitssystem mit diesen vielen Fällen dann auch umgehen kann".
"Deutschland braucht eine Vollbremsung, einen Lockdown, mindestens so, wie ihn Italien jetzt hat."
Stephan Ortner, Direktor des Forschungsinstituts Eurac Research in Bozen in Südtirol
"Die
Notwendigkeit, aber auch die Verhältnismäßigkeit der Abriegelung
ganzer Städte und Gemeinden ist derzeit nicht gegeben", hieß es dazu
aus dem Bundesinnenministerium am Montagabend. Für eine Entscheidung
darüber wäre die jeweilige Landesgesundheitsbehörde auf Grundlage des
Infektionsschutzgesetzes zuständig.
Wann kommt die Normalität wieder?
Auch Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery ist nach eigenen
Angaben "kein Freund des Lockdowns". Wer so
etwas verhängt, muss auch sagen, wann und wie er es wieder
aufhebt", sagte er der "Rheinischen Post". "Da wir ja
davon ausgehen müssen, dass uns das Virus noch lange begleiten wird,
frage ich mich, wann wir zur Normalität zurückkehren?" Es sei ja
nicht möglich, Schulen und Kitas bis Jahresende zu schließen. Denn so
lange werde es mindestens dauern, bis es einen Impfstoff gebe.
Auf dem Spielplatz ist niemand. Bild: dpa
Montgomery sieht Italien bei der Frage eines Lockdowns nicht als
Positivbeispiel, im Gegenteil:
"Die waren ganz schnell an ihren Kapazitätsgrenzen, haben aber die Virusausbreitung innerhalb des Lockdowns überhaupt nicht verlangsamt."
Ein Lockdown sei eine
politische Verzweiflungsmaßnahme, weil man mit Zwangsmaßnahmen meint,
weiterzukommen, als man mit der Erzeugung von Vernunft käme.
Über mögliche Szenarien wollen die Experten vom Robert-Koch-Institut
(RKI) nicht spekulieren. "Wir können zur Dauer der Maßnahmen keine
Prognose abgeben, auch die Dauer der Durchseuchung lässt sich nicht
absehen, das hängt ja auch von Maßnahmen und einer
Impfstoffentwicklung ab", teilte eine Sprecherin mit. "Abwarten", so lautet offenbar das Gebot der Stunden bei den Experten. In frühestens
zehn bis zwölf Tagen lasse sich sagen, ob die jetzt getroffenen
Maßnahmen etwas bringen.
Modellrechnung: Etwa 50 Millionen werden erkranken
In Deutschland könnten sich nach Einschätzung des RKI in einem
Zeitraum von ein bis zwei Jahren 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung
mit dem neuen Coronavirus infizieren. Das entspricht bei gut 83
Millionen Einwohnern etwa 50 bis 58 Millionen Menschen. Diese
Schätzung beruhe auf Modellrechnungen, erläuterte RKI-Präsident
Lothar Wieler. Bei der Modellrechnung seien die Experten davon
ausgegangen, dass es gegen den Erreger derzeit weder eine Immunität
noch Therapien noch einen Impfstoff gebe.
Die Chance, dass in den kommenden Wochen ein Wirkstoff gefunden wird,
der dann auch in ausreichendem Maße zur Verfügung steht, hält Ziebuhr
für unwahrscheinlich. Die Welle sei derzeit schlichtweg zu schnell.
Pandemie durch gewisse Immunität aufheben
Laut RKI wird die Pandemie von selbst gestoppt, wenn sich immer mehr
Menschen infiziert haben und eine Immunität aufbauen. Von den bisher
beim RKI registrierten Infizierten in Deutschland seien viele bisher
gar nicht erkrankt oder schon wieder genesen.
Viele europäische Länder schränkten das öffentliche Leben stark ein.
In Österreich gilt wegen der Pandemie fast eine Ausgangssperre. In
Belgien gilt von Mittwochmittag an eine fast dreiwöchige
Ausgangssperre. Frankreich schloss alle Restaurants, Läden und Bars.
Auch die knapp 47 Millionen Bewohner Spaniens müssen möglichst zu
Hause bleiben. Im Rahmen eines Alarmzustands wurden die meisten Läden
geschlossen und der öffentliche Nah- und Fernverkehr um rund 50
Prozent reduziert. Nach Italien ist Spanien das von der Krise am
stärksten betroffene Land Europas.
(dpa/lin)
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