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Unionsstreit: Wie SPD, CDU; CSU und die Opposition nach der Krise dastehen

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dpa/Montage watson
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7 bleibende Schäden aus dem Unionsstreit (und ein kleiner Lichtblick für die SPD)

Wer jetzt als nächstes von der Matte fliegt
06.07.2018, 14:4407.07.2018, 09:40
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War was?

Nö, sagt die große Koalition. Transitzentren heißen jetzt Transferzentren, aber sonst... Horst Seehofer ist noch CSU-Chef und Innenminister. Angela Merkel kriegt Hilfe auf dem EU-Gipfel. Und die SPD ihr Einwanderungsgesetz noch in diesem Jahr. Nur Gewinner? Nicht ganz.

Die 7 bleibenden Schäden aus dem Führungsstreit in der Union (und ein kleiner Lichtblick für die SPD).

Horst Seehofer oder Minister wirkungslos 

Eines muss man ihm lassen, der Kerl ist im Stoff. Eurodac 1, Eurodac 2 – da stand er nun Horst Seehofer in Wien neben Österreichs Kanzler Sebastian Kurz und dozierte über die Feinheiten der Einreisebestimmungen.

Ein bisschen Minister-Latein
In der EU-Datei Eurodac 1 (Eurpean Dactyloscopie) sind die Fingerabdrücke jener Flüchtlinge gespeichert, die schon in einem anderen EU-Staat registriert sind und dort bereits einen Asylantrag gestellt haben. Sie dürften abgeschoben werden. Konjunktiv. Voraussetzung ist ein Rückführungsabkommen, da haben nur Griechenland und Spanien zugestimmt. Unterschrieben ist nix.

In der EU-Datei Eurodac 2 landen jene Flüchtlinge, die in Deutschland sind, ohne in einem anderen EU-Land registriert zu sein.

In Wien hat Seehofer nichts erreicht. Nächste Woche will er deshalb nach Italien reisen. Die "Südroute" soll jetzt dichtgemacht werden, also der Fluchtweg nach Italien. So geht das. Wenn man nichts erreicht, muss man sich nur stetig neue Ziele setzen. 

Zuhause sowieso:

Robert Habeck, Co-Vorsitzender der kleinsten Oppositionspartei im Bundestag Bündnis 90/Die Grünen lästerte "wirkungsgleich wird zu wirkungslos".

Der beißt nicht! Horst Seehofer im Fasching
Der beißt nicht! Horst Seehofer im FaschingBild: dpa

Immerhin seine Ämter hat Seehofer noch – trotz der Drohung notfalls binnen drei Tagen abzutreten. Denn an einem überstürzten Abgang dürften die Jungen in der Partei kein Interesse haben:

  • Bayerns Ministerpräsident Markus Söder braucht ein Bauernopfer, falls die absolute Mehrheit bei der Bayern-Landtagswahl im Oktober verfehlt wird. 
  • CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt mag daher vor den Wahlen nicht Parteichef werden.
  • Manfred Weber, weltläufiger Fraktionschef der Christdemokraten im Europaparlament, mag (derzeit) weder Innenminister, noch CSU-Chef werden. Er hofft auf die Nachfolge von Jean-Claude Juncker als Kommissionspräsident der EU. (So weit hat's im Ausland noch kein Bayer geschafft, außer Papst Benedikt.)

Die Schmutzeleien kann er trotzdem nicht lassen. Dauerzündler Seehofer:

"Die Rückführungsabkommen ist Sache der Staats- und Regierungschefs", sagte der Innenminister im Bundestag. Und er legt im "Spiegel" nochmal nach. Bestehe der Kompromiss den Praxistest nicht, gehe das Ganze von vorne los. 

"Es wäre keine gute Strategie, darauf zu setzen, dass es keine bilateralen Vereinbarungen gibt. Dann müssten wir darauf zurückgreifen, direkt an der Grenze abzuweisen."
Horst Seehofer

Fazit: Seehofers Beliebtheit sinkt dramatisch. Aber er bleibt CSU-Chef. Mindestens bis zur Landtagswahl im Oktober. 

Angela Merkel, die verwundbare Kanzlerin

Spätestens seit dem Abgang von Nicolas Sarkozy 2012 war Angela Merkel die unumstrittene Nummer 1 in Europa. 

Damit ist jetzt Schluss. 

Der EU-Gipfel Ende Juni war nochmal so etwas wie eine europäische Soli-Aktion. Merkel bekam die große Bühne und ihre Rückführungsabkommen. Aber die Kanzlerin ist geschwächt.

  • In Europa: Den Kompromiss auf dem Gipfel verhandelte nicht wie sonst üblich Angela Merkel sondern Emmanuel Macron. Seehofers Ultimatum hat gezeigt: Merkel ist verwundbar. Das hat ihre Position in Europa weiter untergraben.
  • In Deutschland: Merkel ist (voraussichtlich) in ihrer letzten Amtszeit als Kanzlerin. 2021 ist Schluss. Spätestens. Der Abgang ist nie ganz einfach. Nachfolger bringen sich in Stellung. Die Jungs in der Union fürchten, auf Merkel könnte noch eine Frau folgen. Auch deshalb die Unruhe. Seehofers Move hat nun gezeigt: Merkel ist erpressbar.
  • In der Welt: Merkels Bild vom G7-Gipfel als Anführerin der freien, liberalen Welt hat gelitten. Es war wohl ohnehin eher für die Kritiker in Deutschland gemeint.

Fazit: Merkel wackelt. Und muss die Verträge mit den unwilligen Ländern verhandeln. Viktor Orban hat am Donnerstag schon mal abgesagt. Ein quälend langes Ende.

Die Opposition, zzZZz

Gewinne und Verluste

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Genutzt hat Seehofers Schein-Debatte niemandem. Auch nicht der Opposition. 

  • Die AfD verliert das Monopol auf scharfe Worte in der Debatte. (Aber die Union kann davon nicht profitieren)
  • Die FDP und ihr Chef Christian Lindner kämpfen noch immer mit ihrem Glaubwürdigkeitsproblem seit der Absage an Jamaika. 
  • Die Linke lieferte das schönste Zitat der Debatte ("Seehofer würde selbst Jesus abschieben", so Dietmar Bartsch). Aber der innerparteiliche Führungsstreit lähmt die Partei.
  • Die kleinste Oppositionspartei Bündnis 90/Die Grünen steht ebenfalls vor einer schmerzlichen Diskussion.
  • Bonus-Zahl: Die SPD verharrt weiter in Umfragen unter 20 Prozent.

Der heimliche Vorsitzende Winfried Kretschmann mahnte in einem Interview:

"Wir haben die multikulturelle Gesellschaft zu einem schönen Erlebnis verklärt. In Wirklichkeit ist eine Einwanderungsgesellschaft eine hochgradige Anstrengung."
Winfried Kretschmann, Grünen-Über-Ich

Fazit: Der Opposition fehlt eine alternative Machtperspektive jenseits der Union. Traurig, nach 13 Jahren Merkel. 

Deutschlands Image

Nation branding, nennen Diplomaten das gezielte Imageschaffen für ein Land. Hat spätestens mit der WM 2006 im eigenen Land ziemlich gut geklappt. 

WM-Aus, Diesel-Betrügereien, Seehofer-Aufstand – die sind gar nicht so perfekt, die Deutschen. Aber die inszenierte Regierungskrise hat Folgen.

Inge Gräßle, CDU-Europaabgeordnete, sagte watson.de:

"Hilfreich waren die letzten Wochen nicht, keine Frage. Die Deutschen werden gebraucht, die starke und einigende Stimme der Kanzlerin genauso. Wenn wir jetzt ein Vakuum hinterlassen, wird das sofort von Frankreich gefüllt."
Inge Gräßle, CDU-Europaabgeordnete

Fazit: Deutschlands Image litt und leidet unter der Schein-Regierungskrise gewaltig.

Menschen, die flüchten

Arrival of 48 people of sub-Saharan origin in Almeria, after being rescued by Maritime Salvage near the Alboran island, in Almeria, Andalusia, Spain, 03 July 2018. Rescue of 48 people from a second di ...
Gerettete Flüchtlinge im MittelmeerBild: imago stock&people

Der Kurs in der Flüchtlingspolitik hat sich gewandelt. 

  • Innenminister Horst Seehofer will die "Südroute" in Italien abriegeln
  • die Westbalkan-Route über Ungarn ist für Flüchtlinge schon dicht
  • aus Seenot-Gerettete auf dem Mittelmeer könnten künftig nach Afrika zurückgebracht werden
  • Flüchtlinge, die schon in Lagern in Afrika festgehalten werden, welche die EU mit dem Namen Ausschiffungsplattform belegt.

Europa riegelt sich ab. Kanzlerin Angela Merkel hat diese Woche im Bundestag nochmal daran erinnert, dass die meisten Flüchtlinge in Afrika unterwegs sind.

Fazit: Eine Binse: Mit Abschotten allein lässt sich das Thema nicht regeln.

Sebastian Kurz, der Zauberlehrling

Die Kurz-Methode:

  • Übernimm von den Populisten nicht die Wortwahl, aber deren Agenda. 
  • Verschiebe die politischen Koordinaten nach rechts.
  • Treibe deinen Gegner unaufhörlich vor dir her.

Wenn Kurz über seine Agenda spricht, klingt das so. 

  • Er verspricht "Ein Europa, das schützt" (gegen die Risiken der Globalisierung und der Welt da draußen, was implizit auch die Flüchtlinge meint.)
  • Dann geht er über zur Sicherung der Sozialsysteme, (was implizit auch die Zuwanderung in Sozialsysteme meint).
  • Schließlich geht's zur Handlungsfähigkeit der Politik, (was implizit auch das Abriegeln der Grenzen meint).

Die Seehofer-Debatte hat auch ihn getroffen. Ganz Österreich droht im Streit um die Abschiebung zu einer einzigen Transitzone zu werden. 

Fazit: Wehe, wenn Größere die eigene Methode kopieren.

Scheinpolitik oder wer so handelt, muss sich nicht wundern

Donald Trump hat es vorgemacht. Und weil Trump damit eine Wahl gewann, machen es alle: Bullshitten. Der Philosoph Harry S. Frankfurt hat den Unterschied mal so erklärt: Der Lügner versuche noch eine eigene Wahrheit zu konstruieren, also einer gewissen Rationalität zu folgen. Der Bullshitter verkündet nur groben Unsinn. 

"Der Bullshitter pickt sich einzelne Zahlen aus Statistiken raus, sexed sie up oder dreht sie um."
Harry S. Frankfurton bullshit

Zwei Wochen lang hielt der Führungsstreit der Union das Land in Atem. Ein kompletter EU-Gipfel wurde okkupiert. Ein Minister trat vom Amt zurück, um dann vom Rücktritt zurückzutreten. Das Ergebnis: Null.

  • kein einziges Rückführungsabkommen steht.
  • Asylzentren in Afrika sind völkerrechtlich nicht machbar.
  • Und zum Schluss gesteht Seehofer: Bei all den Maßnahmen gehe es um vier bis sieben Flüchtlinge täglich!

Wahnsinn. Wer so handelt, muss sich über die Folgen nicht wundern. 

Fazit: Das Ansehen der Politik sinkt. 

watson-Zwischenfazit

Video: watson/Yasmin Polat, Leon Krenz

Und jetzt der kleine Lichtblick: Er heißt überraschenderweise SPD!

Lange nichts Gutes gehört von der SPD. Inhaltlich spielt sie durch den Asylkompromiss mit der Union mit ihrer Glaubwürdigkeit. Gut, sie bekommt ein Einwanderungsgesetz. Noch dieses Jahr. 

Dennoch hatte der Führungsstreit in der Union auch sein Positives.

Die Sozialdemokraten waren ausnahmsweise mal nicht der Problembär der großen Koalition. Sie mussten einfach nur zusehen. (Und zwischendurch wie alle vor Neuwahlen zittern.) Aber selten in der jüngsten Vergangenheit hat man einen SPD-Politiker so souverän gesehen, wie Parteivize Olaf Scholz am Donnerstagabend in der ARD.

Genüsslich verwies er darauf, um wie viele Fälle sich die Debatte dreht.

"Für die vier bis sieben Flüchtlinge, die täglich an die Grenze kommen."
Olaf Scholz, SPD-Vize

Sein Fazit:

"Das Sommertheater ist vorbei. Ich mach jetzt Urlaub."
"Viel zu oft begeben sich Ostdeutsche in eine Opferrolle, in die sie nicht gehören"
Als Ostbeauftragter der Bundesregierung nimmt Staatsminister Carsten Schneider (SPD) auch eine Vermittlerrolle ein.

watson: Verzweifeln Sie manchmal an Ostdeutschland, Herr Schneider?

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