Nachhaltigkeit
Interview

Ampel-Sondierungspapier: Klimaexperte sieht schwarz für Pariser Klimaabkommen

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SPD, Grüne und die FDP starten mit den Koalitionsverhandlungen. Doch Klimaexperten warnen, dass die aktuellen Vorgaben nicht ausreichen werden, um den Klimawandel zu stoppen.Bild: iStockphoto / DisobeyArt
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Klimaexperte über das Sondierungspapier: "Aller Voraussicht nach wird das nicht reichen, um die Pariser Klimaziele zu erreichen"

20.10.2021, 17:1520.10.2021, 17:38
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Das internationale Forschungsbündnis Climate Transparency, an dem Institute und NGOs aus 14 Ländern der G20-Staaten beteiligt sind, hat einen neuen Report veröffentlicht. In dem Jahresbericht kommen Experten zu einem erschreckenden Ergebnis: Eine Fortführung der derzeitigen Klimaschutzmaßnahmen der G20-Länder führt zu einer globalen Erwärmung von 2,4 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit.

Aber wie stehen die Chancen, dass Deutschland das Ruder herumreißt – und doch noch seinen Beitrag erfüllt, um das 1,5 Grad-Ziel zu erreichen? Mit Blick auf die nun anstehenden Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP hat watson mit dem Klimaforscher Mark Lawrence über die im Sondierungspapier festgehaltenen Klimaschutzmaßnahmen gesprochen. Lawrence ist wissenschaftlicher Direktor am Potsdamer Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung, einer seiner Forschungsschwerpunkte ist der Klimawandel.

watson: Herr Lawrence, kurz nach der Bundestagswahl hatten Sie in einem Interview mit uns gesagt, dass eine Ampelkoalition fürs Klima am besten wäre. Bleiben Sie auch nach der Veröffentlichung des Sondierungspapiers von SPD, Grünen und FDP dabei?

Mark Lawrence: Ja – allerdings nur mit Blick auf die möglichen Konstellationen nach dem Wahlergebnis. Rein klimatechnisch wäre Rot-Rot-Grün wahrscheinlich noch besser gewesen, aber das stand nach dem Wahlergebnis nicht zur Debatte. Von den Konstellationen, die jetzt möglich sind, ist die Ampelkoalition in Sachen Klimaschutz am stärksten.

Was macht diese Koalition in Ihren Augen so klimafreundlich?

Ich würde leider nicht sagen, dass sie richtig klimafreundlich ist. Da steht noch einiges an Arbeit bevor. Aber sie ist zumindest klimafreundlicher als alle anderen Konstellationen, die nach dem Wahlergebnis möglich wären. Ein Grund für meinen vorsichtigen Optimismus ist, dass die FDP dabei ist. Sie fragen sich jetzt bestimmt: Wie bitte, weil die FDP dabei ist? Aber ja, genau deswegen. In Bezug auf Klimaschutz werden die Grünen das Programm vorantreiben und die SPD wird weitgehend mitgehen. In einem Gespräch mit Olaf Scholz vor ein paar Monaten habe ich erfreulicherweise ein ernsthaftes Interesse am Klimaschutz festgestellt – auch im Bezug auf die Wissenschaft dahinter. Die FDP pflegt einen eher liberalen Umgang mit der Industrie und kann dadurch die Legitimation der beschlossenen Maßnahmen verbessern. Zum Beispiel bei der jüngeren Generation, die zahlreich die FDP gewählt hat. Allerdings: Marktmechanismen und neue Technologien, auf die die FDP besonders stark setzt, um beispielsweise CO2 aus der Luft zu ziehen, werden die Klimakrise allein nicht lösen. Es braucht vor allem einen schnellen Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor und der Kohle.

Damit die Ampelkoalition funktioniert, so haben Sie es uns in einem vorherigen Interview geschildert, komme es jetzt darauf an, die FDP ins Boot zu holen. Ist das nach einem ersten Blick auf das Sondierungspapier gelungen?

Ich denke schon. Der erste Punkt, der in dem Sondierungspapier thematisiert wird, ist "Moderner Staat und digitaler Aufbruch" – noch vor dem Klimaschutz. Und die Digitalisierung ist immerhin ein Kernthema der FDP. Wenn die Digitalisierung vorangeht und gut gemacht wird, dann kann sie auch dem Klimaschutz dienen. Die SPD und die Grünen haben es geschafft, dass sich die Themen der FDP auch in dem Sondierungspapier wiederfinden. Soweit ich das beurteilen kann, haben sie gar nicht erst versucht, sie nur mit Kleinigkeiten abzuspeisen.

"Die allerwichtigsten Klimaschutzmaßnahmen – der frühzeitige Ausstieg aus der Kohle und das Ende des Verbrennungsmotors – sind ganz konkret in dem Papier benannt und werden, denke ich, auch ernsthaft angegangen."

Wenn man sich das Papier ansieht, bekommt man das Gefühl, dass die FDP eine ganze Menge durchsetzen konnte: Kein Tempolimit, keine Steuererhöhungen – beides Forderungen der Grünen für mehr Klimaschutz. Steht die Durchsetzungskraft noch im Verhältnis?

Das werden wir erst sehen, wenn es einen Koalitionsvertrag gibt. Aber das Sondierungspapier ist immerhin eine gute Ausgangslage für die nachfolgenden Koalitionsgespräche. Die allerwichtigsten Klimaschutzmaßnahmen – der frühzeitige Ausstieg aus der Kohle und das Ende des Verbrennungsmotors – sind ganz konkret in dem Papier benannt und werden, denke ich, auch ernsthaft angegangen. Aber in der Tat sind einige der Forderungen der Grünen nicht in dem Papier wiederzufinden.

Welchen Einfluss haben die von den Grünen gewollten, nun wohl aber gescheiterten Maßnahmen wie das Tempolimit auf das CO2-Einsparziel Deutschlands?

Die CO2-Einsparungen durch Tempolimits auf Autobahnen wären weitaus geringer als beispielsweise durch die Umstellung von Verbrennungs- auf Elektromotoren, die Strom aus erneuerbaren Quellen laden. Zumindest solange, wie sich der Trend in Richtung größere SUVs nicht fortsetzt. Auch die systemische Umstellung im Güterverkehr, gegebenenfalls inklusive Wasserstoffbetrieb, sollte nicht vernachlässigt werden. Der Güterverkehr ist immerhin für etwa ein Drittel der Straßenverkehrsemissionen in Deutschland verantwortlich. Natürlich werden auch Tempolimits und weitere Maßnahmen immer wichtiger, wenn wir wirklich unseren Beitrag zur Einhaltung der Pariser Klimaziele leisten wollen. Aber in solchen Verhandlungen geht man ja einen Punkt nach dem anderen an, da ist es sinnvoll, sich erstmal auf die wichtigsten Maßnahmen zu konzentrieren.

In dem Sondierungspapier wird ein Ausstieg der Kohleverstromung "idealerweise" schon bis 2030 vorgezogen. Ein guter Anfang?

Ja, natürlich. Aber "idealerweise" und "Anfang" sind Schlüsselwörter, die stutzig machen. Es ist gut, dass sich das Ziel der Grünen, den Ausstieg aus der Kohle vorzuziehen, in dem Sondierungspapier wiederfindet. Aber jetzt muss es auch im Koalitionsvertrag landen – am besten mit festen Vorgaben und nicht mit Phrasen wie "idealerweise". Und wie gesagt: Es ist nur ein Anfang. Wir müssen auch aus der Gasverstromung raus und viele andere Punkte im Energiesektor berücksichtigen. Aber besser ein Anfang als ein Stillstand oder Rückgang, wie wir amerikanischen Staatsbürger es unter Donald Trump erlebt haben.

Auch ist in dem Papier die Rede von einem Klimaschutzsofortprogramm, das 2022 losgehen soll. Was muss darin umgesetzt werden?

Auch das ist etwas, was sich in dem Wahlprogramm der Grünen findet. Am wichtigsten ist zum jetzigen Zeitpunkt, dass das Problem ernsthaft angegangen wird. Aber in einer Art und Weise, die die Gesellschaft mitnimmt. Es muss eine möglichst breite, positive Stimmung für die Klimaschutzmaßnahmen erzeugt werden. Erst dann können wichtige Dinge wie der Ausstieg aus der Kohle und den Verbrennungsmotoren in den ersten 100 Tagen beschlossen werden. Bis diese Dinge aber tatsächlich umgesetzt werden, braucht es ja nochmal Jahre. Was man in der nächsten Zeit aber schon machen könnte, wären bürgernahe Maßnahmen wie eine Umschichtung der Finanzen anzustoßen, um den Ausbau des ÖPNV voranzutreiben.

Gibt es denn Themen, die in Bezug auf den Klimaschutz wichtig wären, aber in dem Papier ausgespart wurden?

Ja, in der Tat sogar einige. Für mich sind drei Punkte besonders wichtig – und alle haben mit Weitsichtigkeit zu tun. Erstens: Klimaschutz ist mehr als nur die Reduktion von CO2-Emissionen. CO2 macht nur etwa die Hälfte der aktuellen globalen Erwärmung aus. Die andere Hälfte wird durch Methan, Ruß, Ozon, Lachgas und andere Klimatreiber verursacht. Das ist auch schon lange bekannt und in den Berichten des Weltklimarats nachzulesen. Aber irgendwie dringt die Botschaft nicht ganz durch. Klimaneutral bedeutet nicht gleich CO2 -neutral. Da gibt es weitaus mehr zu tun. Aber natürlich wäre es ein wünschenswerter Anfang, würden wir CO2-neutral sein.

Zweitens: Es gibt auch viele andere Bereiche der Umwelt, die wir schützen müssen. Luftverschmutzung, Plastikmüll in den Ozeanen, giftige Substanzen in den Böden – all diese Dinge werden quasi nur nebenbei erwähnt. Ich halte die Bedrohung für den Menschen durch den Verlust der Biodiversität für mindestens genauso groß wie den Klimawandel – wenn nicht sogar für größer. Daher bin ich sehr froh, dass die Wichtigkeit der Biodiversität durch den diesjährigen Umweltpreis ein Stück weit anerkannt wurde. Aber man kann nur hoffen, dass diese Themen dann auch in der Koalitionsvereinbarung fest verankert werden.

Und drittens: Klimaschutz ist nur ein Aspekt der Nachhaltigkeit. Er nützt uns nur dann, wenn er sozial gerecht und nachhaltig angegangen wird. Und dieser weitergehende Aspekt fehlt mir in dem Sondierungspapier. Die wenigsten wissen, dass Deutschland eine eigene Nachhaltigkeitsstrategie hat. Diese wird vom Bundeskanzleramt koordiniert und bindet nicht nur viele Ressorts wie das Umweltministerium und das Entwicklungsministerium ein, sondern auch verschiedene unterstützende Gremien wie den Rat für Nachhaltige Entwicklung oder die Wissenschaftsplattform Nachhaltigkeit 2030. Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie orientiert sich an den "Sustainable Development Goals" der UNO, die zumindest kurz in dem Papier erwähnt werden. Aber eben nur in einem Nebensatz. Ich empfinde es als sehr wichtig, Klimaschutz immer als integralen Bestandteil der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie anzusehen, um ihn dann wiederum effektiver und nachhaltiger zu gestalten. Ich hoffe sehr, dass das in der Koalitionsvereinbarung dann auch so festgehalten wird.

"Aller Voraussicht nach werden die Bemühungen aber leider noch immer nicht reichen, um die Pariser Klimaziele zu erreichen und den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts umzusetzen."

Reichen die in dem Sondierungspapier angerissenen Klimaschutzmaßnahmen aus, damit Deutschland seinen Teil für das Erreichen des 1,5 Grad-Ziels erfüllt?

Deutschland allein kann das 1,5 Grad-Ziel – und auch jedes andere Klimaziel – nicht erreichen. Klimaschutz ist eine globale Aufgabe. Deutschland emittiert nur etwa zwei Prozent der globalen CO2-Emissionen. Wenn wir unsere Emissionen allerdings nicht reduzieren, und zwar erheblich, dann tragen wir maßgeblich dazu bei, dass das Ziel nicht erreicht wird. Warum? Deutschlands Bevölkerung macht etwa ein Prozent der Weltbevölkerung aus. Das heißt, dass wir pro Kopf etwa das doppelte vom Weltdurchschnitt an CO2 emittieren. Wie können wir von 99 Prozent der Weltbevölkerung erwarten, dass sie ihre Emissionen runterfahren, wenn wir das – wie von einigen Politikern gefordert – aufgrund unseres geringen Anteils nicht tun? Wenn wir Verantwortung übernehmen und effektiv zum Erreichen der globalen Klimaziele beitragen wollen, dann müssten wir sogar deutlich schneller handeln als die restliche Welt. Deutschland müsste als reiches Industrieland vorangehen und unter Beweis stellen, dass die notwendige gesellschaftliche und technologische Transformation gelingen kann, dass Wohlstand und Klimaschutz Hand in Hand gehen können. Zudem muss Deutschland ärmere Staaten darin unterstützen, ihre eigenen Wege der Dekarbonisierung zu finden.

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Christian Lindner bei der Ankunft an der Messe Berlin zu den Sondierungsgesprächen von SPD, FDP und Grünen im Hintergrund Demonstrierende von Greenpeace und Fridays for Future.Bild: imago images / Political-Moments

Vertreter von Fridays for Future und auch der Grünen Jugend kritisieren, dass das Sondierungspapier unzureichend für den Klimaschutz ist. Annalena Baerbock verteidigt das Papier, drängt auf eine "Klimaregierung". Wäre die Ampelkoalition das – eine "Klimaregierung"?

Anhand des Sondierungspapiers würde ich sagen, dass beide recht haben. In der Tat wird die neue Regierung einen stärken Fokus auf den Klimaschutz legen als jede bisherige Regierung in Deutschland, vermutlich sogar weltweit. Zumindest, was das Setzen der Schwerpunkte angeht. Aller Voraussicht nach wird das aber leider noch immer nicht reichen, um die Pariser Klimaziele zu erreichen und den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts umzusetzen. Das liegt allerdings nicht nur an den verhandelnden Parteien, sondern auch an der Mitmachbereitschaft der deutschen Bevölkerung und Industrie. Nur wenn alle Hand in Hand arbeiten, kann der Klimaschutz gelingen.

Frankreich und Russland planen gemeinsame Sache bei Atomenergie

Während andere aussteigen, steigt Frankreich voll ein ins Atomgeschäft. Derzeit betreibt das europäische Land 56 aktive Reaktoren, weitere sind in Planung. Zu Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine musste sich Frankreich daher weniger den Kopf zerbrechen, wie es sich vom russischen Gas losreißt. Anders als etwa Deutschland.

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