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Polizei in Stuttgart: Warum die "Stammbaumforschung" so falsch ist

Massives Polizeiaufgabe am Eckensee in Stuttgart. Dort war die Keimzelle der Krawalle vom Samstag zuvor. Der von der Polizei als Event- und Partyszene bezeichnete Gruppierung standen hunderte Polizist ...
Polizisten am Eckensee in Stuttgart – an dem in der Nacht auf den 21. Juni die Krawallnacht begonnen hatte. Bild: www.imago-images.de / ARNULF HETTRICH
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Warum die "Stammbaumforschung" der Stuttgarter Polizei so falsch ist

13.07.2020, 19:1413.07.2020, 19:20
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Stammbaumforschung. Dieses sperrige Wort hat seit dem Wochenende eine intensive Debatte ausgelöst – um Deutschsein, um Migration, Integration, Rassismus.

Was passiert ist: Das Polizeipräsidium Stuttgart schaut bei der Untersuchung der Krawallnacht vom 20. auf den 21. Juni nach eigenen Angaben nicht nur darauf, welche Nationalität manche Randalierer haben. Sondern auch darauf, ob ihre Eltern Deutsche sind oder nicht. Ob sie also einen Migrationshintergrund nach der Definition des Statistischen Bundesamts haben. "Stammbaumforschung" hat die "Stuttgarter Zeitung" dieses Vorgehen genannt. Die Polizei selbst bestreitet, jemals dieses Wort verwendet zu haben.

Aber es geht nicht um das Wort "Stammbaumforschung" an sich. Es geht um drei Grundsätze, die verletzt werden, wenn die Polizei bei Straftaten dem "Migrationshintergrund" Verdächtiger hinterher fahndet.

Drei Grundsätze, die in Deutschland ständig verletzt werden: in der Alltagssprache, in politischen Diskussionen, auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt.

Niemand ist Deutscher auf Bewährung

Warum soll es überhaupt wichtig sein zu wissen, ob Vater oder Mutter oder beide Eltern eines der mutmaßlichen Randalierer von Stuttgart in Deutschland geboren sind oder nicht? Die erste, oberflächliche Antwort darauf: Weil es viele interessiert. Wer, wie der Autor dieses Kommentars, einmal bei einer Lokalzeitung gearbeitet hat, der weiß, wie viele Anruferinnen und Facebook-Kommentatoren es bei Straftaten brennend interessiert, ob der mutmaßliche Verbrecher einen scheinbar typisch deutschen Nachnamen hat oder nicht.

Warum das so viele Menschen interessiert? Weil sie unterstellen, dass es einen Zusammenhang gebe zwischen Herkunft und Hang zur Kriminalität. Wer einen türkisch, arabisch, russisch klingenden Nachnamen hat, so die Unterstellung, der neige zum Verbrechen. Dass das vielfach wissenschaftlich widerlegter Quatsch ist – weil nicht die Herkunft zu höherer Kriminalität führt, sondern Faktoren wie Alter, Geschlecht, soziale Stellung, Erziehung – ändert daran leider nichts.

Dass die Stuttgarter Polizei, ob mit Absicht oder nicht, diese Unterstellung mit ihrer Stammbaumforschung bestätigt, ist ein Schlag in die Magengrube für Millionen Menschen in Deutschland. Für einen großen Teil der 20,8 Millionen nämlich, die selbst einen sogenannten "Migrationshintergrund" haben (ein problematisches Wort, dazu mehr in Punkt 3). Ihnen wird dadurch nämlich von staatlicher Stelle ein Eindruck bestätigt, der ihnen im Alltag immer wieder vermittelt wird: dass sie Deutsche auf Bewährung sind.

Dass sie zwar auf dem Papier Staatsbürger dieses Landes sind – dass jedoch auf ihrem Personalausweis eine Art unsichtbares "Aber" steht. Dass sie, wenn es hart auf hart kommt, nicht mehr der oder die Deutsche sind, sondern Migrantin oder Migrant: dann, wenn sie in einer Debatte einen unbequemen Standpunkt vertreten; wenn jemand anderes mit derselben Herkunft eine verheerende Straftat begangen hat; wenn sie selbst ins Visier der Polizei geraten.

Malcolm Ohanwe, deutscher Journalist, Sohn einer palästinensischen Mutter und eines nigerianischen Vaters, hat auf den Punkt gebracht, welches Gefühl dieser Eindruck auslöst: "Wozu in Deutschland integrieren oder Deutscher sein, wenn am Ende der "Stammbaum" zählt?"

Der Punkt ist: Niemand darf sich als "Deutscher als Bewährung" fühlen. Wer die Staatsbürgerschaft bekommt, der hat sie, ohne Wenn und Aber. Womit wir bei Grundsatz zwei sind.

Es gibt keine Deutschen erster und zweiter Klasse

"Deutscher im Sinne dieses Gesetzes ist, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt." So lautet Paragraph 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes – und mit diesem Satz könnte man eine Menge sinnloser Diskussionen beenden.

Es gibt, das ist der Kern dieses Satzes, keine Deutschen erster und zweiter Klasse. Deutscher ist, wer einen deutschen Pass hat. Es ist egal, ob die Person selbst, ihre Eltern oder Großeltern, in Gütersloh oder Gaziantep, in Stuttgart oder Salamanca geboren sind. Die Zeiten, in denen ein besserer Deutscher war, wessen Familie seit dem 18. oder 12. Jahrhundert hier gelebt hat, sind zum Glück längst vorbei.

Wer etwas Anderes behauptet, der weiß im besseren Fall nicht richtig, nach welchen Regeln unser Staat funktioniert – und ist im schlimmeren Fall ein Rassist.

Zu welcher Kategorie der Mensch gehört, der am Sonntagnachmittag den Twitter-Account der Stuttgarter Polizei bedient hat, ist schwer zu sagen. Fakt ist: Diese Person hat – in der Diskussion um die "Stammbaumforschung" – den Satz in der Reply hier unten geschrieben:

"Deutsche" Jugendliche, in Anführungszeichen. Anführungszeichen haben die sprachliche Funktion, sich von einem Wort oder Satz zu distanzieren, ihn entweder jemand anderem in den Mund zu legen oder ihn ironisch zu brechen. Aber ihn sich in jedem Fall nicht zu eigen zu machen. Was für ein verheerendes Signal.

Noch einmal, zum Mitschreiben und Wiederholen: Jugendliche, die einen deutschen Pass haben, sind immer Deutsche. Und niemals "Deutsche".

Wir haben alle einen Migrationshintergrund

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis das in Deutschland nicht mehr als steile These gegolten hat, sondern von einem weiten Teil der Gesellschaft anerkannt wurde.

Dabei ist Einwanderung für das Gebiet, das heute Deutschland ist, nicht erst seit den als "Gastarbeiter" gekommenen Einwanderern aus Italien oder der Türkei Realität, sondern seit Jahrtausenden. Die Kelten haben in Deutschland gesiedelt, germanische und slawische Stämme, die Römer. Tausende Hugenotten, französische Flüchtlinge, sind seit dem 17. Jahrhundert nach Berlin gekommen, später zigtausende polnische Arbeiter ins Ruhrgebiet, italienische nach Bayern. Und das sind nur wenige Beispiele der vielen Migrationsgeschichten, die Deutschland zu dem gemacht haben, was es heute ist.

Der Ausdruck "Migrationshintergrund", der nur für die Menschen gilt, die mindestens einen Elternteil haben, der im Ausland geboren ist, ist daher problematisch: Weil er unterstellt, dass nur in der Familiengeschichte dieser Menschen Migration steckt. Während Migration in Wahrheit im Stammbaum von jedem von uns steckt, wenn wir nur weit genug zurückgehen.

Schluss mit Diskussionen, die vielen wehtun - und allen schaden

Drei Grundsätze also verletzt die "Stammbaumforschung" der Stuttgarter Polizei.

Auf diese drei Grundsätze – dass niemand Deutscher auf Bewährung ist, dass es keine Deutschen erster und zweiter Klasse gibt, dass wir alle einen Migrationshintergrund haben – sollte sich eine Mehrheit der deutschen Gesellschaft baldmöglichst einigen. Sonst werden wir uns weiter regelmäßig in Auseinandersetzungen verlieren, die vielen Menschen wehtun. Und die am Ende allen schaden.

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