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"Anti-Abschiebe-Industrie": Was das Unwort des Jahres über den Rechtsruck verrät

CSU-Politiker wie Alexander Dobrindt verwenden immer wieder Vokabular, dass vor einigen Jahren nur am rechten Rand gebraucht wurde.
CSU-Politiker wie Alexander Dobrindt verwenden immer wieder Vokabular, dass vor einigen Jahren nur am rechten Rand gebraucht wurde.Bild: imago/getty images/montage: watson
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Das Unwort des Jahres zeigt, wie weit der Rechtsruck schon fortgeschritten ist

15.01.2019, 16:21
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"Anti-Abschiebe-Industrie" ist das Unwort des Jahres. Bereits zum fünften Mal in Folge steht das Negativ-Wort exemplarisch für den Rechtsruck in der deutschen Gesellschaft.

Auffällig: In den vergangenen vier Jahren wurden die Begriffe "alternative Fakten", "Volksverräter", "Gutmensch" und "Lügenpresse" zum Unwort gekürt. Nun also "Anti-Abschiebe-Industrie." Aussagen, auf die man vor einigen Jahren nur am rechten Rand gestoßen ist, werden heute von Regierungspolitikern hinausposaunt. Konservative biedern sich bei den Rechtspopulisten an und am Ende gewinnt vor allem die AfD.

Der CSU-Politiker Alexander Dobrindt behauptete im Mai 2018, es gebe in Deutschland eine "aggressive Anti-Abschiebe-Industrie". Damit meinte er nicht etwa das Werk von Aktivisten oder gar Schleusern, die Abschiebungen mit illegalen Mitteln zu verhindern versuchen. Dobrindt sprach über die Arbeit von Anwälten, die auf dem Rechtsweg gegen die Ablehnung von Asylanträgen vorgehen. Immer wieder haben diese Anwälte Erfolg, immer wieder entscheiden Gerichte, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Asylanträge zu Unrecht abgelehnt hat.

Das Unwort des Jahres:
Zum "Unwort des Jahres" kürt die Jury seit 1991 jedes Jahr einen Begriff, der aus ihrer Sicht gegen das "Prinzip der Menschenwürde" oder gegen "Prinzipien der Demokratie" verstößt, weil er gesellschaftliche Gruppen diskriminiere oder euphemistisch, verschleiernd oder gar irreführend ist.

Doch: Das was Dobrindt als "Problem" erkannte, nennt sich schlichtweg Rechtsstaat. Jeder Mensch hat in Deutschland das Recht, Behördenentscheidungen, die sein Leben massiv beeinflussen, von einem Gericht überprüfen zu lassen.

Dobrindt weiß das selbstverständlich. Er polterte trotzdem mit populistischem Vokabular gegen Geflüchtete und ihre Rechte und nahm dabei Kritik vom Koalitionspartner SPD sowie von NGOs und Anwaltsvereinen in Kauf. Diese Sprache ist mittlerweile fester Bestandteil der Bundespolitik und sie zeigt den gesellschaftlichen Rechtsruck der vergangenen Jahre.

Vom Tabubruch in die Talkshows

Rechtsextreme und Rechtspopulisten betreiben das Geschäft des kalkulierten sprachlichen Tabubruchs schon lange. Beatrix von Storch, die 2016 auf Facebook postete "Wer das HALT an unserer Grenze nicht akzeptiert, der ist ein Angreifer", und sogar auf Kinder an den deutschen Grenzen schießen lassen wollte, war sich nicht nur des Tabus bewusst, das sie damit bricht. Sie wird sich auch im Klaren darüber gewesen sein, welche Aufmerksamkeit sie damit erzielen würde.

Und so wiederholt sich das immer gleiche Muster: Ein Politiker der AfD sagt etwas, das bis vor kurzem noch als unsagbar gegolten hätte. Die Aufregung ist groß, das Medieninteresse größer. Kurze Zeit später sitzt der AfD-Politiker dann in der nächsten Talkshow und freut sich über seinen gelungenen Publicity-Stunt.

Die Unwörter der vergangenen Jahre:
2017: "alternative Fakten"
2016: "Volksverräter"
2015: "Gutmensch"
2014: "Lügenpresse"
2013: "Sozialtourismus"

Die anderen wollen auch mitspielen

Diese "Erfolge" in Sachen Aufmerksamkeit bleiben auch in anderen Parteien nicht unbemerkt. In Teilen der CDU und noch größeren Teilen der CSU wird nicht durch lösungsorientierte Politik versucht, die AfD kleinzuhalten, sondern durch eine Rhetorik, die die AfD am rechten Rand des politischen Spektrums einholen will. Und auch Teile der FDP spielen dieses Spiel mit. Christian Lindner etwa, der von der Sorge sprach, in der Schlange beim Bäcker nicht zwischen "hochqualifizierten" Einwanderern und "höchstens geduldeten Ausländern" unterscheiden zu können. Sahra Wagenknechts Rede vom "verwirkten Gastrecht" gehört ebenso in diese Riege, wie die regelmäßigen Ausfälle des Tübinger "Problem-Grünen" Boris Palmer.

Dass sich das Fischen am rechten Rand nicht auszahlt, zeigt jedoch etwa das Ergebnis der bayerischen Landtagswahl. Die CSU hat kaum etwas unversucht gelassen, um die AfD in ihrer rechten Komfortzone zu schlagen. Am Ende stand für sie eine historische Wahlschlappe.

Während viele dieser "Fischer" am rechten Rand das nicht verstehen wollen, haben Neue Rechte und Rechtsextreme das Prinzip längst verinnerlicht und versuchen, es für sich zu nutzen. 

Von der Übernahme rechter Begriffe und Forderungen profitieren nämlich in erster Linie sie selbst. Jedes Mal, wenn Politiker der etablierten Parteien völlig unkritisch Begriffe der Rechtspopulisten und Rechtsextremen verwenden, wird deren Ideologie ein kleines bisschen salonfähiger. Der Rahmen des Sagbaren verschiebt sich nach rechts und damit die Chancen der Rechten, die sagen: "Wir haben das doch immer schon gesagt!"

Ein Startpunkt dieser Diskursverschiebung: Die Sarrazin-Debatte.

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