Es war ein heißer Juni-Tag in Brüssel, jener 26. Juni 2015. Die EU verhandelte mal wieder über Griechenland. Aber zur mitternächtlicher Stunde eröffnete Kanzlerin Angela Merkel ihre Pressekonferenz auf Ebene 10 des Gebäudes der EU-Kommission mit einem überraschenden Statement:
Es ging um die Flüchtlinge, die sich auf den Weg nach Europa machten. Die Krise war also abzusehen. Aber niemand mochte hinhören.
Anfang September 2015 ließ Angela Merkel die Grenzen nicht schließen und schickte einen energischen Satz hinterher:
Das war auf Deutschland gemünzt. Aber auch ein wenig auf die EU.
Dort gilt im Asylrecht die sogenannte Dublin-Verordnung. Die besagt: Ein Flüchtling hat seinen Asylantrag in dem Land zu stellen, in dem er in die EU einreist.
Die Ankunftsländer Griechenland und Italien waren schlicht überfordert, da dort besonders viele Flüchtlinge einreisen. Sie ließen diese weiterreisen nach Norden.
Im Herbst 2015 suchte Europa dann nach einer schnellen Lösung.
In Deutschland werden Flüchtlinge nach einem Schlüssel gemäß Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft auf die Bundesländer verteilt. Die Bundesregierung wollte dieses Verfahren rasch auf die EU übertragen.
Eigentlich werden strittige Verfahren in der EU im Konsens gelöst. Aber osteuropäische Staaten wie Ungarn lehnten die Quote ab.
Die deutsche Diplomatie – noch berauscht vom gerade erfolgten Durchmarsch in der Euro-Krise – setzte auf Power. So kam im September 2015 die Quote zur Verteilung der Flüchtlinge per Mehrheitsbeschluss. Und der Widerstand.
Polen, die Slowakei und Tschechien schlossen sich Ungarn an. Die EU war in der Flüchtlingsfrage gespalten. Und ist es bis heute.
Im April 2016 handelt die EU, sie setzt auf eine Reform des gemeinsames Asylrechts. Der zuständige Vizepräsident der EU-Kommission Frans Timmermans sagt:
Konkret sieht der Reformplan sieben Punkte vor. Davon sind bislang sechs weitestgehend zwischen Mitgliedstaaten, EU-Kommission und Europäischem Parlament besiegelt.
Die AfD wettert schon jetzt gegen das Vorhaben. So wähnt der Abgeordnete Martin Hebner eine freie Wohnortwahl für Schutzsuchende.
Stimmt nur nicht. Laut EU-Kommission gilt:
Vor allem bei unbegleiteten Minderjährigen wird darauf geachtet, in welchem Land sich Angehörige befinden, um sich um das Kind kümmern zu können.
Offen ist – seit September 2015 – die Frage nach der Verteilung der Flüchtlinge und die Rückkehr zum Dublin-Prinzip: Der Asylantrag wird in dem Land bearbeitet, in das der Flüchtling in die EU einreist.
Die Lage für Merkel vor dem Gipfel am 28. und 29. Juni ist gefährlich. Europa ist dreigeteilt:
Wird also schwierig für Merkel. Auch, wenn Frankreichs Staatschef Macron und Spaniens neuer Regierungschef Pedro Sanchez ihre Linie stützen.
Und zwar bilaterale Verträge, also Verträge zwischen zwei Staaten zur Rücknahme von Flüchtlingen.
Das hat schon einmal geklappt, im März 2016, hat die EU mit der Türkei ein Flüchtlingsabkommen geschlossen. Das funktioniert zumindest in der Rückführung der Flüchtlinge, die über die Türkei in die EU kommen. Doch versprochene Gegenleistungen für die Türkei, wie etwa Visa-Erleichterungen bei Reisen türkischer Bürger in die EU, lassen weiter auf sich warten.
Merkel will einzelne Abkommen, etwa mit Bulgarien, Griechenland oder Italien. Aber auch für die gilt das EU-Asylrecht und die strengen Vorgaben für Abschiebungen. Derzeit gilt für Flüchtlinge, die in einem anderen EU-Staat einen Asylantrag einreichen und weiterreisen:
Erleichterungen sind also machbar, aber in zwei Wochen nur schwer zu kriegen.
Seehofer will die Grenzen schließen. Aber auch das ist schwierig. Nicht allein wegen der Kontrollen. Sondern auch wegen des europäischen Rechts.
Österreichs ehemaliger Innenminister Hans Peter Doskozil ist skeptisch. Er sagt der Bild-Zeitung:
Ähnliche Erfahrungen habe sein Land 2015 schon mit Ungarn gemacht, schränkte Doskozil die Erfolgschancen von Seehofer ein.
Europa duldet keine Alleingänge. Wird eng. Für Merkel. Und für Seehofer. Beide müssen auf Einsicht bei den übrigen EU-Staaten hoffen.
Literaturhinweise: Eine gute Zusammenfassung der
EU-Flüchtlingspolitik (und ihrer Versäumnisse) bietet:
Giovanna Dell’Orto,
Irmgard Wetzstein (eds.): „Refugee News, Refugee Politics. Journalism, Public
Opinion and Policymaking in Europe“. 2018.
Stephen Smith: „La ruée
vers L’Europe“. Erscheint unter dem Titel „Nach Europa. Das junge Afrika auf
dem Weg zum alten Kontinent“ im Herbst auf Deutsch.