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Impfskepsis, politische Fehler: Warum ist die Corona-Lage in Bayern so verheerend?

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Zwei Krankenpfleger mit einem Covid-Patienten auf der Intensivstation im Klinikum Fürth.Bild: dpa / Daniel Vogl
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Niedrige Impfquoten, hohe Inzidenz, Intensivstationen vor dem Kollaps: Warum ist die Corona-Lage in Bayern so verheerend?

23.11.2021, 15:1624.11.2021, 15:07
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19 Rettungsfahrzeuge, die 23 Patienten von einem Krankenhaus zum anderen transportieren müssen – weil die Betten knapp werden. Die Bilder der Aktion, die eine Klinik vergangene Woche auf Instagram postete, haben viele als ultimatives Alarmsignal interpretiert. Als Zeichen dafür, dass die pandemische Lage außer Kontrolle gerät.

Die Bilder kommen aus dem Rottal, einer ländlichen Region im Südosten Bayerns. Aus dem Bundesland also, dessen Landesregierung unter Führung von Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sich seit Beginn der Pandemie inszeniert als "Team Vorsicht", als Vertreterin von Vernunft und gesundem Menschenverstand.

Was ist da los? Warum schießen in der vierten Welle der Pandemie die Anzahl der Ansteckungen und die der Krankenhauseinweisungen ausgerechnet in Bayern in die Höhe?

Die Zahlen: Nur noch 10 Prozent freie Intensivbetten

Die Inzidenz, also die Zahl neu festgestellter Infektionen mit dem Coronavirus pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen, liegt in Bayern am Montag bei 692, nur in Sachsen ist der Wert mit über 1000 höher. Zum Vergleich: In Bremen, Niedersachsen, und Schleswig-Holstein liegt die Inzidenz bei unter 200. Vier der zehn Landkreise mit den höchsten Inzidenzen liegen in Bayern.

967 an Covid-19 erkrankte Menschen liegen laut dem DIVI-Intensivregister in Bayern auf der Intensivstation, 506 davon werden invasiv beatmet, also mit einem Beatmungsschlauch. Nur noch ein Zehntel der Intensivbetten in Bayern ist demnach frei. Laut Intensivmedizinern ist das ein besorgniserregend niedriger Wert: Er bedeutet an vielen Orten, dass nur noch ein einziges Intensivbett frei ist – für einen Covid-Patienten, für einen Menschen mit einem Herzinfarkt, für ein Unfallopfer.

Im südbayerischen Landkreis Rosenheim veröffentlichten Ärzte per Zeitungsanzeige einen "dringenden Impfaufruf" an die Bevölkerung. Darin steht: "Der Zusammenbruch der medizinischen Versorgung droht Realität zu werden!"

Die Krankenhäuser in Bayern trifft die vierte Welle auch deshalb mit einer solchen Wucht, weil weniger Intensivbetten zur Verfügung stehen als noch in der ersten Welle, im Frühjahr 2020. Das liegt laut den DIVI-Daten auch daran, dass im Vergleich zum Jahr 2020 in Bayern 700 weniger Intensivbetten zur Verfügung stehen – weil das nötige Personal fehlt.

Die Grenzlage: Liegt es an der Nähe zu Österreich und Tschechien?

Schon während der früheren Wellen der Pandemie erklärten bayerische Landespolitiker hohe Infektionszahlen in Bayern regelmäßig mit dem Blick auf die Landkarte. Bayern grenzt im Osten an Tschechien, im Südosten und Süden an Österreich. Zwei Staaten, die in unterschiedlichen Phasen der Pandemie heftig gelitten haben:

  • Tschechien war in der zweiten und dritten Welle zeitweise der Staat mit den höchsten Infektionszahlen weltweit.
  • Österreich hat die vierte Welle mit ungeheurer Wucht erreicht. Die Bundesregierung in Wien hat einen landesweiten Lockdown bis Mitte Dezember verhängt – und will eine allgemeine Impfpflicht auf den Weg bringen, die im Februar wirksam werden soll.

Im bayerischen Gesundheitsministerium sieht man allerdings höchstens einen allgemeinen Zusammenhang zwischen der Grenzlage und der Corona-Lage. Auf watson-Nachfrage heißt es aus dem Ministerium:

"Zwar kann eine direkte Korrelation des Infektionsgeschehens zu Österreich oder Tschechien nicht hergeleitet werden. Prinzipiell bedeutet aber ein Mehr an Mobilität auch ein Mehr an Infektionsgeschehen. Es ist davon auszugehen, dass etwa – verglichen mit einer Küstenregion – in Regionen mit einer Grenze (zu In- oder Ausland) mehr Mobilität stattfindet."

Auch Christian Seidenrath, CSU-Abgeordneter und Vorsitzender des Gesundheitsausschusses im Bayerischen Landtag, sieht in der Lage diesmal nur einen Teil der Erklärung. Er erklärt dazu gegenüber watson:

"Meiner Meinung nach liegt es an den langen Außengrenzen Bayerns zu Österreich und Tschechien sowie an der im Bundesvergleich leider geringen Impfquote."

Die Impfquote: Warum bleibt Bayern unterdurchschnittlich?

Je niedriger der Anteil der Geimpften, desto höher die Zahl der Corona-Infektionen: Dieser Zusammenhang lässt sich, grob gesagt, beim Vergleich zwischen europäischen Ländern feststellen – und zwischen Bundesländern. In Bremen, Schleswig-Holstein und Niedersachsen, wo rund oder über 70 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft sind, ist die Zahl der Infektionen besonders niedrig.

In Bayern sind nur 66 Prozent vollständig geimpft.

Warum ist das so?

Es gibt Berichte über Partys aus besonders betroffenen Landkreisen in Südbayern, zu denen sich Menschen verabredeten, um sich mit dem Coronavirus absichtlich anzustecken – und somit ein Genesenenzertifikat zu bekommen, das ihnen die Impfung ersparen soll. Das bayerische Gesundheitsministerium verweist auf watson-Anfrage auf "eine ausgeprägtere Impfskepsis" im Süden des Freistaats. Wörtlich meint eine Sprecherin zu watson:

"Das zeigen bereits bisherige Erfahrungen wie beispielsweise bei der Schutzimpfung gegen Masern. Grundsätzlich liegt die Vermutung nahe, dass das diese Skepsis auch bei der Impfung gegen COVID-19 eine Rolle spielt."

In der Tat zeigen Karten zur Impfquote gegen Masern seit Jahren und schon lange vor der Corona-Pandemie, dass gerade in wohlhabenden Regionen Süddeutschlands ein besonders großer Anteil der Eltern ihre Kinder nicht gegen die Krankheit impfen lässt.

Erklärungsansätze dafür, weshalb die Impfskepsis gerade ganz im Süden Deutschlands große Verbreitung findet, gibt es mehrere. In den vergangenen Wochen haben Journalisten in mehreren großen Medien Erklärungen dafür in der Beliebtheit esoterischer Bewegungen wie der Anthroposophie gesucht.

Michael Blume, Religionswissenschaftler und Antisemitismusbeauftragter der baden-württembergischen Landesregierung, nennt gegenüber watson historische Gründe dafür: Der jahrhundertealte Konflikt zwischen kleinen, sprachlich unabhängigen Gemeinschaften im Alpenraum und den Vorschriften eines fernen Zentralstaats ist laut Michael Blume ein Grund für die in Südbayern – wie auch im Süden Baden-Württembergs – überdurchschnittlich weit verbreitete Impfskepsis.

Michael Weigl, Politikwissenschaftler an der Universität Passau, ist vorsichtig bei Erklärungen, die sich um die politische Kultur in Bayern drehen. "Offensichtliche Gründe politisch-kultureller Art" gebe es aus seiner Sicht für die niedrige Impfquote in Bayern nicht, meint er gegenüber watson. Weigl ergänzt:

"Hier etwas reininterpretieren zu wollen, erschiene mir doch sehr spekulativ und ohne entsprechende Datensätze – die erst noch erhoben werden müssten – sehr unseriös."

Landesregierung verweist auf viele Tests, Opposition auf Söders ungeimpften Vize Aiwanger

Welchen Anteil die bayerische Landespolitik an der Corona-Lage hat, darüber streiten sich Staatsregierung und Opposition im Freistaat.

Die bayerische Staatskanzlei, der Amtssitz von Ministerpräsident Söder, hat eine watson-Anfrage zu den Gründen der hohen Infektionszahlen nicht beantwortet. Das Gesundheitsministerium in München verweist in seiner Antwort auf einen dritten Grund für die hohen Ansteckungszahlen, neben der Nähe zu Österreich und Tschechien und der niedrigen Impfquote: die hohe Anzahl an Tests in Bayern. Der Freistaat habe ein "leistungsfähiges Testregime", besonders an den Schulen.

Das Ministerium schreibt wörtlich: "Heute haben wir im Schulbereich sehr engmaschige Testfrequenzen mehrmals wöchentlich, sodass unter Schülerinnen und Schülern eine sehr hohe Fallaufdeckungswahrscheinlichkeit besteht und es kaum eine Dunkelziffer Infizierter in dieser Altersgruppe gibt." Daraus schließt das Haus von CSU-Minister Klaus Holetschek: "Ein solches systematisches Testregime, das bedeutende Bevölkerungsanteile betrifft, kann auch ein einflussreicher Faktor für höhere Fallzahlen sein."

Darauf verweist gegenüber watson auch Söders Stellvertreter, der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler). Er meint, nach Gründen für die hohen Ansteckungszahlen gefragt:

"Es ist schwer, das endgültig zu klären. Wir sehen gerade im Süden Deutschlands höhere Inzidenzen. Bayern, Thüringen und Sachsen haben hohe Infektionsraten. Zudem ist die Testquote in Bayern hoch, wodurch viele Infektionen entdeckt werden und dementsprechend gehandelt werden kann.“

Aiwanger hatte im Sommer bundesweit für Aufsehen gesorgt, weil er öffentlich gemacht hatte, sich nicht gegen das Coronavirus impfen lassen zu wollen. Vor wenigen Tagen entschied Aiwanger sich dann doch zur Impfung. Zu seiner geänderten Entscheidung will er nach Angaben eines Sprechers der Freien Wähler derzeit nichts sagen.

Die SPD-Landtagsabgeordnete und Gesundheitspolitikerin Ruth Waldmann sieht gerade bei Aiwanger eine Mitverantwortung für die niedrige Impfquote in Bayern. Waldmann erklärt gegenüber watson:

"Statt Impfskeptiker glaubwürdig zu überzeugen, Impfgegnern entschieden entgegenzutreten und Aufklärungsarbeit zu leisten, die etwa bei Ängstlichen wirklich fruchtet, hat sich das bayerische Kabinett in internen Querelen verloren: über Öffnungstempo, Weihnachtsmärkte und sogar 'Freedom Day', angeführt von einem impfunwilligen Hubert Aiwanger auf höchster Regierungsebene."

Insgesamt zieht Waldmann ein vernichtendes Fazit über die bayerische Pandemiepolitik. Sie meint:

"Die Bayerische Staatsregierung hat über den ganzen Pandemieverlauf die Lage nie besser in den Griff bekommen als andere Bundesländer. Auch, wenn sie das fortwährend behauptet hat. Im Gegenteil."

Die "Krankenhausampel" der Staatsregierung – die frühzeitig vor einer Überbelegung der Kliniken warnen sollte – sei "untauglich".

Die SPD-Politikerin meint, insbesondere während des Sommers sei die Regierung Söder "untätig" geblieben, anstatt sich auf die vierte Welle der Pandemie vorzubereiten. Waldmann wörtlich: "Ich habe mir den Mund fusselig geredet mit Warnungen vor zu spätem Handeln."

Wie kommt Bayern da raus?

Die bayerische Staatsregierung gibt sich weiterhin besonders entschlossen: Ministerpräsident Söder brachte am vergangenen Freitag, früher als andere Bundes- und Landespolitiker, eine Impfpflicht für die Gesamtbevölkerung ins Spiel.

Der Religionswissenschaftler Blume verweist auf geschichtliche Vorbilder, die für eine Impfpflicht sprechen können. Er meint gegenüber watson:

„Verschwörungsmythen sind unvernünftig und schaden letztlich allen, auch den Ängstlichen und Verschwörungsgläubigen selbst. Deswegen führte Bayern schon 1807 eine gesetzliche Impfpflicht ein, damals gegen die Kuhpocken. Auch heute müssen wir uns eingestehen, dass sich nicht alle Menschen durch Wissenschaft überzeugen und schützen lassen.“

Der stellvertretende bayerische Ministerpräsident sieht das Impfen nur als eines der Mittel, um die Pandemie in den Griff zu bekommen.

Auf Anfrage von watson erklärt Aiwanger:

"Die Staatsregierung setzt auf mehrere Maßnahmen. Kontaktreduzierung der Menschen untereinander. Große Veranstaltungen werden in Bayern stark begrenzt oder abgesagt, auch private Treffen sollen unter der Prämisse des Infektionsschutzes gesehen werden. Impfen und Testen werden forciert."
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