Vor fast zehn Jahren gab Thilo Sarrazin der "Lettre Internationale" ein Interview – und brach ein Tabu. Weil er darin gesellschaftliche und ökonomische Probleme ethnisierte. Und das als Bankvorstand, Ex-Finanzsenator und SPD-Politiker. Vor allem ein Begriff aus dem Interview ist bis heute hängengeblieben. Und steht stellvertretend für die Abwertung ganzer Bevölkerungsgruppen: Das "Kopftuchmädchen".
Seither ist viel passiert. Die Finanz- und Flüchtlingskrisen erfassten Europa. Deutschland mauserte sich vom "kranken Mann Europas" zum Exportweltmeister. Thilo Sarrazin vom Bankvorstand zum Bestsellerautor. Die SPD stürzte ins Dauerumfragetief und die AfD in den Bundestag.
Und seit vergangener Woche ist es offiziell: Das Wort "Kopftuchmädchen" hat den Marsch durch die Institutionen "erfolgreich" vollendet. Die AfD-Abgeordnete Alice Weidel trug es in einer Rede in die höchste demokratische Institution. Ins Parlament.
Die Thesen hinter diesem Begriff, die Angst vor einer Islamisierung des Abendlandes, das Verächtlichmachen ganzer Bevölkerungsgruppen, sind längst auch in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Quer durch alle politischen Lager. Quer durch Familien und Redaktionen. In den vergangenen zehn Jahren hat sich der Diskurs politisiert, in Teilen radikalisiert, aber mindestens mal verschoben,
Und das kam so:
Der in den Bundesbankvorstand gewechselte Ex-Finanzsenator Thilo Sarrazins hatte in dem Interview unter anderem erklärt, dass viele Araber und Türken für die deutsche Wirtschaft kaum einen Mehrwert hätten und deswegen der Zuzug gestoppt werden müsse.
Sarrazin verwechselte Bildung mit Intelligenz, argumentierte philosemitisch und scheute sich auch nicht, bei der Begründung seiner Thesen die Vererbungslehre heranzuziehen. Er misst Migranten nicht nur an ihrer "ökonomischen Produktivität" (wie auch immer man die misst), sondern erklärt einen Teil der türkisch- und arabisch-stämmigen Deutschen zu Idioten, wenn er, wie in seinem Buch "Deutschland schafft sich ab", sagt: "Man könnte ja auf die Idee kommen, dass auch Erbfaktoren für das Versagen von Teilen der türkischen Bevölkerung im deutschen Schulsystem verantwortlich sind."
Sarrazin hat das Ressentiment nicht erfunden. Sarrazin war nie das Problem. Immer nur Symptom. Und er hat vermutlich nur ausgesprochen, was sowieso viele denken. Das machte es aber nicht besser. Sarrazin gab dem Ressentiment das bürgerliche Gesicht. Das eines klugen Analytikers, der in den Jahren zuvor erfolgreich den Berliner Haushalt sanierte. So gesehen war "Kopftuchmädchen" eine Kopfgeburt. Die Thesen Sarrazins fanden vor allem auch Zuspruch in bürgerlichen Kreisen. Mit "Europa braucht den Euro nicht" lieferte er das Begleitbuch einer selbst ernannten Alternative für Deutschland, die als Eurokritische Professorenpartei gestartet war.
Die Folge: Linke und Liberale zeigten sich empört. In der SPD wurden Stimmen nach einem Parteiausschluss laut. Die Bundesbank fürchtete einen Imageschaden, erhöhte den Druck – Sarrazin gab schließlich freiwillig seinen Posten auf. Gleichzeitig wurde er Dauergast in deutschen Talkshows, die Buchauszüge landeten als Vorabdruck in großen deutschen Tageszeitungen, seine Bücher kletterten die Bestsellerlisten hinauf.
Die Flüchtlingsfrage wirkte von Anfang an wie ein Kontrastmittel. Nicht wenige glaubten sich berufen, "Zustände" jetzt endlich beim Namen nennen zu dürfen. Sie verkauften es als Kampf gegen eine Political Correctness und stilisierten sich zu Verfechtern der (eigenen) Meinungsfreiheit. Sarrazin wurde ihr Kronzeuge.
Die Radikalisierung erreichte die politische Mitte. Richtig und falsch wurde wieder zur Kategorie des Politischen. Am Anfang stand die Unterscheidung von richtigen und falschen Flüchtlingen. Die richtigen flüchteten vorm Henker, ohne Smartphone und in Demut. Und kehren schnellsmöglich wieder zurück. Die falschen teilten den unerhörten Wunsch auf ein besseres Leben in Deutschland.
Andreas Zick, der seit 2002 die Langzeitstudie "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Deutschland" betreut, beschrieb bereits 2012, "dass Menschen, die sich politisch in der Mitte verorten, einen höheren Wert bei Fremdenfeindlichkeit und insbesondere bei der Islamfeindlichkeit aufweisen". Auch unter gutsituierten Bürgern, rechts wie links. In den einkommensstärkeren Gruppen gebe es einen deutlichen Anstieg. Der Konfliktforscher sprach von einem "messbaren Effekt". Und in einer Studie "Fragile Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland" aus dem Jahre 2014 heißt es: "Personen, die sich in der politischen Mitte verorten, sind also nicht automatisch gefestigte Demokraten. Der demokratische Konsens in der Mitte der Gesellschaft ist somit fragil und keinesfalls auf Dauer garantiert."
Die Verschiebung des Sagbaren hat auch mit den sozialen Medien zu tun. Denn: Ihr Aufstieg in den letzten zehn Jahren ist beispiellos. Man konnte den Menschen jetzt direkt in die Köpfe gucken. Das Netz wurde zu einer Art Dark Room der Besorgten, von dem aus neurechte Bewegungen die Mitte mit ihren Ideologien penetrierten.
Die unkontrollierte Diskursöffnung vollzog sich vor allem digital. Das ist nicht grundsätzlich schlecht. Wenn man beachtet, dass bestimmte Gruppen nicht repräsentativ, sondern nur laut sind. Wenn Journalisten und Politiker die möglichen Reaktionen im Netz zwar antizipieren, sich beim Schreiben und Reden aber nicht davon leiten lassen. Wenn man sich klar macht, dass ein Post noch keine Debatte ist. (Denn: Bei der digitalen ist es wie mit jeder Revolution: der Übergang ist holprig. Es braucht Zeit, bis sich Korrektive etablieren.)
So wuchs neben einer Willkommensbereitschaft in großen Teilen der deutschen Bevölkerung eine Abschiebekultur wie ein zartes Pflänzchen heran, medial und Foren-gewässert, gedüngt mit Angst und Untergangsstimmung. Das sehnsuchtsgetriebene Herbeiklappern vom Kippen der Stimmung wurde zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. In den Foren und Kommentarspalten wurde Angela Merkel zur "Volksverräterin", die "weg muss". Deutschland muss Deutschland bleiben, holt euch euer Land zurück, wehret den Anfängen, skandierten sie in diesem Milieu, das glaubte, gegen eine "Blockparteiendiktatur" zu Felde zu ziehen. Pegida hat schließlich Wut und Vorurteile aus den Wohnzimmern und Kommentarspalten auf die Straße getragen.
Mit der AfD zog schließlich die Kommentarspalte in den Bundestag.
Das veränderte Klima schlug sich auch in den Parteien nieder. Quer durch alle Lager. Dass sich der Diskurs in Deutschland in den letzten zehn Jahren nicht gerade nach links verschoben hat, lässt sich vor allem an Aussagen etablierter Parteien festmachen.
Ein paar Sätze, die vor zehn Jahren noch undenkbar schienen:
Horst Seehofer, Heimatminister:
Gesagt hat Horst Seehofer diesen Satz wohlgemerkt noch vor der Flüchtlingskrise auf dem politischen Aschermittwoch 2011 in der Dreiländerhalle in Passau.
Andreas Scheuer, CSU:
Gesagt hat Andreas Scheuer diesen Satz beim Regensburger Presseclub 2016, damals noch in Funktion des Generalsekretärs. Er offenbart sehr deutlich, dass viele Kritiker der Flüchtlingspolitik Angela Merkels "Wir können das nicht schaffen" sagen und "Wir wollen das nicht schaffen" meinen.
Christian Lindner, FDP:
Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner schilderte eine Alltagsbeobachtung auf dem jüngsten Parteitag, die er später einem zugewanderten Bekannten zuschreibt:
Boris Palmer, Die Grünen:
In Ulm hatte den Tübinger Bürgermeister ein Radfahrer in der Fußgängerzone bei einer Slalomfahrt "fast umgenietet". Der Mann habe schwarze Hautfarbe gehabt "und das Hemd so weit offen, dass er quasi mit nacktem Oberkörper provozierte".
Was Palmer zu der These führte:
Besonders bemerkenswert: Die eigentlich interessante Frage stellt Palmer dann höchst selbst:
Auf den Kommentar einer Userin, wieso sich Palmer so sicher sei, dass es sich um einen Asylbewerber handele, reagierte Palmer dann so:
Sahra Wagenknecht, Die Linke:
Gesagt hat Sahra Wagenknecht das in einem Interview mit der Zeitung "Die Welt". (Wie viele Ärzte Deutschland tatsächlich aus dem Niger holt, kann man hier nachlesen.) Bei Wagenknecht kein Einzelfall. Auch sie versucht, zur AfD abgewanderte Wähler zurückzuholen. Auch sie ließ im Zuge der Flüchtlingskrise kaum ein Mikrofon aus, um von Kontrollverlust zu reden und vor offenen Grenzen zu warnen.
"Wer Gastrecht missbraucht, hat Gastrecht verwirkt", sagte Sahra Wagenknecht nach der Silversternacht in Köln. Der modernen Variante des NPD-Slogans "Kriminelle Ausländer raus" wird kaum von einer Partei widersprochen.
Da ist es nur konsequent, dass Wagenknecht nun gemeinsam mit Oskar Lafontaine eine neue "Linke" und überparteiliche Sammlungsbewegung vorantreibt. #fairLand soll sie heißen, wie der Spiegel berichtete. Neben Umverteilungen soll auch die "Wahrung kultureller Eigenständigkeit in Europa" eine Rolle spielen.
Alice Weidel, AfD:
Die schräge Debattenführung lässt sich auch daran ablesen, dass mittlerweile Fragen von Integration in aller erster Linie unter der Prämisse Abschiebung und Asylmissbrauch verhandelt werden. Die Erfolge jahrzehntelanger Integration werden zur Fußnote. Parteien überbieten sich im Abschiebebingo.
Es braucht neue Tabubrüche. Die AfD liefert. Zu den "Kopftuchmädchen" gesellen sich die "Messermänner":
Dann sprach Weidel den Fraktionsvorsitzenden der Grünen, Anton Hofreiter, direkt mit der Frage an, wer denn seine Pensionen zahle: "Ihre eingewanderten Deutschtürken etwa? Das meinen Sie doch nicht im Ernst."
Der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble reagierte. Er rief das offensichtlich Rassistische zur Ordnung. Das, was hinter der Eisbergspitze "Kopftuchmädchen" schlummert, bleibt davon unberührt.