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Bürgergeld: Betroffene über die Einigung – "Niemand sollte arm sein"

Nora* steckt nicht allzugroße Hoffnungen in das neue Bürgergeld – sie hat den Eindruck, Betroffene spielen für die Politik keine Rolle (Symbolbild).
Nora* steckt nicht allzugroße Hoffnungen in das neue Bürgergeld – sie hat den Eindruck, Betroffene spielen für die Politik keine Rolle (Symbolbild). Bild: pexels / vitaly
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Nur ein- bis zweimal am Tag Essen: Betroffene über die Einigung beim Bürgergeld

25.11.2022, 11:03
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Beim Thema Bürgergeld gibt es nun Einigung. Nach einer Aussprache von Ampel und Union – sowie einigen Anpassungen des vorherigen Gesetzentwurfes – ist der Weg frei für die Hartz-IV-Reform. Auch der Bundestag hat bereits zugestimmt. Wie blicken Betroffene auf das, was kommt?

Eine von ihnen ist Nora, die eigentlich anders heißt, aber anonym bleiben möchte. Nora ist 35 Jahre alt, verheiratet und Mutter eines Sohnes. Sowohl sie als auch ihr Mann beziehen Hartz-IV. Bei watson berichtet Nora, wie sie Teil des Systems wurde und wie es ihr und ihrer Familie aktuell geht. Und sie spricht darüber, wie sie die Debatte um das Bürgergeld wahrgenommen und welche Erwartungen sie an die Reform hat.

Nora erzählt:

"Ich habe in meiner Kindheit viel Gewalt gesehen und auch selbst erfahren. In frühen jugendlichen Jahren bin ich an Depressionen erkrankt, die aber damals nicht richtig erkannt wurden. Erst recht nicht von meiner Mutter. Dadurch haben sie sich chronifiziert. Ich habe irgendwann alles verweigert und musste deshalb vom Gymnasium auf die Realschule.

Nora kämpft seit ihrer Jugend mit Depressionen – die hatten aus Auswirkungen auf ihre Bildung (Symbolbild).
Nora kämpft seit ihrer Jugend mit Depressionen – die hatten aus Auswirkungen auf ihre Bildung (Symbolbild).Bild: pexels / karolina grabowska

Mit 18 oder 19 Jahren habe ich mich wieder gefangen, und eine Ausbildung zur Industriekauffrau gemacht. Während dieser Ausbildung bin ich an einer Angst- und Panikstörung erkrankt. So stark, dass ich über ein halbes Jahr krankgeschrieben wurde – meine Ausbildung konnte ich aufgrund der Fehlzeiten mit Ach und Krach abschließen. Der Betrieb hat mich nicht übernommen.

Und ich wollte mich dann erstmal auf meine Gesundheit konzentrieren. Ich habe eine Therapie gemacht, habe aber als Berufseinsteigerin mit so langen Fehlzeiten danach den Anschluss nicht bekommen – trotz etlicher Bewerbungen. Seitdem bin ich im System.

Und dort stecke ich fest.

Seit über einem Jahr sind mein Mann und ich in einer Jobcentermaßnahme – das bedeutet, wir müssen dreimal in der Woche zum Familiencoaching. Dort werden wir von einer Sozialpädagogin begleitet. Seither geht es bergauf.

"Ich bin so lange in diesem System, dass ich mich damit abgefunden habe, politisch keine Rolle zu spielen."

Aber vorher sind mein Mann und ich durch die Maschen gerutscht. Niemand wusste, wohin mit uns. Wir haben nicht einmal mehr Jobangebote bekommen. Das System lässt in seiner Form kaum Gesundung zu für Menschen, die erkrankt sind.

Hoffnung, dass sich etwas verbessert, habe ich keine mehr.

Ich bin so lange in diesem System, dass ich mich damit abgefunden habe, politisch keine Rolle zu spielen. Aber natürlich habe ich mir gewünscht, dass die Ampel mit dem Bürgergeld zumindest die Regelsätze anhebt. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat errechnet, dass das Bürgergeld 725 Euro betragen müsste, um armutsfest zu sein. Ich würde sagen, das kommt hin. Das sind knapp 220 Euro mehr, als wir ab Januar bekommen sollen.

Armut bekämpft man in erster Linie mit Geld. Weil Armut bedeutet, dass ich monetär nicht in der Lage bin, mir Dinge des täglichen Bedarfs leisten zu können. 220 Euro mehr würden gerade in Zeiten der Inflation ansatzweise die Kosten von Strom und Lebensmitteln decken. Und unserem Sohn vielleicht zumindest ein wenig soziokulturelle Teilhabe ermöglichen.

Für Nora und ihren Mann bedeutet Armut auch: höchstens zwei Mahlzeiten am Tag, kein Obst, keine Snacks.
Für Nora und ihren Mann bedeutet Armut auch: höchstens zwei Mahlzeiten am Tag, kein Obst, keine Snacks.Bild: pexels / rodnae productions

Aktuell ist unser Geld so knapp, dass mein Mann und ich am Tag ein bis zwei Mahlzeiten zu uns nehmen können. Keine Zwischensnacks, kein Obst. Für unseren Sohn gibt es mehr, er isst in der Schule Mittag und bekommt auch für zwischendurch Mahlzeiten. Aber für uns reicht es nicht.

Durch die steigenden Energiepreise und die Inflation blicken viele Menschen heute mehr auf das Thema Armut. Ich nehme mehr Zuspruch wahr, mehr Verständnis. Die Menschen hören uns Betroffenen öfter zu. Ich sehe das aber auch kritisch – all das passiert nur, weil durch die Pandemie und jetzt durch die Inflation alle merken, was es bedeutet, sich einzuschränken. Es wäre schön, wenn die Menschen uns auch so zuhören würden. Ich wünsche niemandem die Zustände, die wir hier seit 2020 haben. Niemand sollte arm sein.

Was aber auch zur Wahrheit gehört: Durch die Initiative #Ichbinarmutbetroffen hat unsere Perspektive mehr Aufmerksamkeit als jemals zuvor. Trotzdem kommen wir in öffentlichen Debatten immer noch zu wenig vor. Menschen sprechen über uns, nicht mit uns. Da ist es mir egal, ob ein Ampelpolitiker oder ein Unionler in der Talkshow sitzt – die wenigsten Politiker haben Armutserfahrungen.

"Schon vor dieser Einigung mit der Union habe ich das Bürgergeld nicht für die größte Sozialreform des Jahrzehnts gehalten."

Abgesehen von CDU und CSU, die, glaube ich, absichtlich eine Kampagne mit Falschinformationen machen – so daneben liegen kann man ja nicht aus Versehen – wird über Dinge diskutiert, von denen die Menschen keine Ahnung haben. Nicht einmal Sozialarbeiter oder die Sachbearbeiter im Jobcenter wissen genau, was sie da tun. Die müssen auch immer noch einmal nachschauen, was genau jetzt für wen gilt.

Hinter all dem steckt ein riesiger, komplizierter und undurchsichtiger Gesetzeswust. Das heißt, in den Talkshows sprechen oft Menschen, die Armut nicht kennen und die außerdem wenig Wissen in der Tiefe haben.

Schon vor dieser Einigung mit der Union habe ich das Bürgergeld nicht für die größte Sozialreform des Jahrzehnts gehalten – und jetzt erst recht nicht mehr. Die Reform hätte ursprünglich viel für Menschen geändert, die neu ins System kommen.

Das finde ich gut, niemand sollte im ersten Jahr schon all seine Ersparnisse aufbrauchen müssen.

L-R Friedrich Merz, CDU-Parteivorsitzender, und Olaf Scholz SPD, Bundeskanzler, aufgenommen im Rahmen der Sitzung des Deutschen Bundestages in Berlin, 03.06.2022. Berlin Deutschland *** L R Friedrich  ...
Nach dem Veto im Bundesrat musste sich die Ampel beim Bürgergeld auf CDU/CSU zubewegen.Bild: imago images/ Florian Gärtner

Aber die Sanktionsfreiheit hätte ich mir tatsächlich für alle Menschen im System gewünscht. Auch wenn die jetzt ohnehin nicht kommt. Die Sanktionen betreffen einen Bruchteil der Beziehenden – alle anderen sind aber dadurch in einem sehr bevormundenden, angsteinflößendem System. Mein Gegenüber kann mir jederzeit meine Grundlage wegnehmen, das ist sehr bedrohlich.

Das Einzige, das ich an dem neuen Bürgergeld positiv sehe, sind die Zuverdienstmöglichkeiten für Jugendliche. Also, dass ihnen ihr Geld, das sie in der Ausbildung oder bei Ferienjobs verdienen, nicht einfach weggenommen wird. Am Ende müssen wir aber natürlich abwarten, was am 1. Januar wirklich kommt.

"Je mehr wir nach unten treten, desto größer wird die Angst der Menschen, die kurz davor sind abzurutschen."

Insgesamt finde ich es nicht richtig, dass dieses System auf einem Machtgefälle beruht. Wir müssen auf Augenhöhe sein. Ich möchte als Mensch gesehen werden, mit all meinen Eigenheiten und Problemen. Nicht als Nummer. Natürlich gibt es sehr gute Sachbearbeiter – es gibt aber auch viele, die uns behandeln, als würden wir alle das Klischee des rauchenden, saufenden Arbeitslosen erfüllen. Das tut dem Selbstbewusstsein nicht gut.

Dieses Bild ist durch die Politik der vergangenen 20 Jahre geformt. Je mehr wir nach unten treten, desto größer wird die Angst der Menschen, die kurz davor sind abzurutschen. Und das verfestigt letztendlich den Niedriglohnsektor.

An diesen Vorurteilen wird auch der neue Name Bürgergeld nichts ändern."

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