Deutschland
Interview

Prostitution: Marie Merklinger fordert Sexkaufverbot in Deutschland

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Sie klärt auf über die Folgen der Prostitution: Marie Merklinger. Bild: imago/watson-montage
Interview

"Junge Mädchen werden hier kaputtgefickt" – Ex-Prostituierte fordert Sexkaufverbot

04.04.2019, 13:5507.06.2019, 16:37
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Sie nennen sich "Überlebende". Frauen, die den Absprung aus der Prostitution geschafft haben. Marie Merklinger ist eine von ihnen.

Drei Jahre lang bekam Merklinger Geld gegen Sex. Damals war sie schon über 40, arbeitslos, alleinerziehend, ihr stand das Wasser bis zum Hals. Diese Zeit hat Spuren hinterlassen. Narben, wie sie sagt. Seit acht Jahren kämpft sie für die Rechte von Prostituierten. In dieser Woche trifft sie andere "Überlebende" beim Weltkongress gegen sexuelle Ausbeutung in Mainz. Bis Freitag sollen "Handlungsschritte für eine Gesellschaft ohne Prostitution" erarbeitet werden. Die Frauenhilfsorganisation Solwodi (Solidarity with Women in Distress) hat dazu Experten, aber auch ehemalige Prostituierte und Opfer von Zwangsprostitution aus der ganzen Welt in die rheinland-pfälzische Landeshauptstadt geladen. Ziel ist ein Verbot von käuflichem Sex, nach schwedischem Vorbild.

Dieses Ziel verfolgt auch die Ex-Prostituierte Marie Merklinger. Ein Interview.

watson: Sie nennen sich Überlebende. Warum?
Marie Merklinger:
Weil wir genau das sind: Überlebende. Überlebende des Prostitutionsmissbrauchs. Was weltweit und hier in Deutschland passiert, das ist schlicht und einfach Missbrauch. Die Frauen wollen mit diesen Männern keinen Sex. Sie haben Sex, weil sie das Geld brauchen. Sie haben den gleichen Ekel, den Frauen nun mal empfinden, wenn sie mit Männern Sex haben, mit denen sie eigentlich keinen wollen. Daran ändert Geld nichts. Es ist etwas sehr, sehr Intimes, das erzwungen wird durch die Not, Geld machen zu müssen. Das macht wirklich jede Frau kaputt.

Dabei wurden in den letzten Jahren die Rechte von Prostituierten doch gestärkt: Das Prostitutionsgesetz von 2002 ermöglichte es, sozialversicherungspflichtig tätig zu sein. Das Prostituiertenschutzgesetz von 2017 schuf die Möglichkeit, sich registrieren zu lassen und gesundheitliche Beratung zu bekommen. Ist das keine Verbesserung?
Sicher ist es gut, wenn die Frauen jetzt darauf bestehen können, dass ein Kondom verwendet wird. Aber ansonsten? Im Grunde wurde Tür und Tor geöffnet, sodass jeder in die Prostitution gehen kann. Die Situation ist doch die: Wir haben in Deutschland eine Riesenmenge an Frauen, die aus den ärmsten Ländern kommen. Frauen, die keine Bildung haben, die blutjung sind. Was hat sich für die verbessert? Die melden sich irgendwo an und zwei Wochen später weiß niemand, wo sie sind. Die wechseln ins nächste Bordell, weil die Männer Frischfleisch wollen. Die Freier wissen auch ganz genau, dass die ganz jungen Mädchen aus den osteuropäischen Ländern, die wiederum in ihren Ländern oft keine guten Erfahrungen mit der Polizei gemacht haben, ihre Rechte nicht einfordern werden.

Die Gesetzeslage
Mit dem Prostitutionsgesetz von 2002 wollte die damalige rot-grüne Bundesregierung Prostituierte in Deutschland rechtlich besserstellen und ihnen das Stigma nehmen. Seither ist Prostitution nicht mehr sittenwidrig. Prostituierte sollten sozial besser abgesichert sein, der Zugang zur gesetzlichen Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung wurde geschaffen. Allerdings meldeten sich kaum Prostituierte an, die Gesetze blieben weitgehend wirkungslos. Aus einer Kleinen Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion von Februar 2019 geht hervor, dass sich 2018 gerade einmal 76 Prostituierte bei Sozialversicherungen gemeldet hätten. Die Bundesregierung verwies darauf, dass die Aussagekraft der Statistik eingeschränkt sei, da viele Prostituierte sich vermutlich nicht in der offiziell vorgesehenen Berufsgattung anmelden würden. Deutschlandweit geht die Bundesregierung von rund 200.000 Frauen aus, die als Prostituierte arbeiten.
Auch das 2017 in Kraft getretene Prostituiertenschutzgesetz hat offenbar nicht die gewünschte Wirkung erzielt. Prostituierte sollen sich bei ihren Kommunen registrieren und gesundheitlich beraten lassen. Laut Bundesregierung haben sich im ersten Halbjahr nach dem Inkrafttreten gerade einmal 6959 Frauen in den jeweiligen Kommunen angemeldet.
Kritiker beklagen, die Liberalisierung der Prostitution habe das Gegenteil erreicht und Deutschland habe sich zu einer Art "Bordell Europas" entwickelt.

Sie wollen die liberale Gesetzgebung in Deutschland kippen und setzen sich für das sogenannte "Nordische Modell" nach schwedischem Vorbild ein. Das begreift Prostitution per se als eine Menschenrechtsverletzung...
Richtig, und deswegen müssen wir die Frauen komplett entkriminalisieren und die Nachfrager kriminalisieren. Es müssen die herangezogen werden, die dafür verantwortlich sind, dass so viele Frauen nach Deutschland gebracht werden: nämlich die Freier. Nur von dieser Seite kann man diesen Sumpf austrocknen. Die Freier sind die richtige Adresse. Denen ist die Not der Mädchen doch völlig wurst.

Nicht nur die Gesetze, auch die Sprache hat sich verändert. Prostituierte werden heute auch Sexarbeiterinnen genannt. Wie finden Sie diese Wortschöpfung?
Diesen Begriff lehne ich ab. Wie kann Sex Arbeit sein? Sex ist eine Sache, die zwei Menschen einvernehmlich miteinander machen. Das Wesen der Prostitution ist, dass der Mann seine Befriedigung an einer Frau erkauft. Das hat nichts mit der Sexualität der Frau zu tun, das hat nichts mit Lust der Frau zu tun. Sex kann niemals Arbeit sein.

Sie selbst haben drei Jahre in der Prostitution verbracht. Gibt es ein Leben nach der Prostitution?
Gibt es definitiv, aber es ist nicht mehr dasselbe. Die Zeit als Prostituierte nimmt einen wirklich mit. Man bekommt ein ganz schräges Männerbild. Und da muss etwas dran sein, weil man sie zu Hunderten trifft: Männer, die sich Sex um jeden Preis verschaffen. Das hat mich sicher verändert.

Inwiefern?
Ich habe keinen Drang mehr, eine Zweierbeziehung mit einem Mann zu führen. Nein, überhaupt kein Interesse. Das ist aber auch nicht schlimm. Das empfinde ich eher als angenehm. Ja, es gibt ein Leben danach. Aber ich habe meine Narben abbekommen. Und in bestimmten Situationen spüre ich sie einfach.

Es ist traumatisierend. Wenn ein 150-Kilo-Mann, der aussieht wie Super Mario, schwitzend auf einem draufliegt und man erstickt schier, dann beamt man sich einfach weg.

Das ist ein psychischer Schutzmechanismus, der einfach Spuren hinterlässt. Die vermeintlich glücklichen "Sexarbeiterinnen" nennen das Professionalität. Aber das nehme ich ihnen nicht ab. Dieser Mechanismus lässt sich nicht steuern.

Wohin haben Sie sich in solchen Momenten gebeamt?
Einfach weg. Wie soll ich Ihnen das erklären? Sie müssen sich das vom Mechanismus vielleicht ein bisschen so wie beim Zahnarzt vorstellen. Wenn Sie sich aus Angst vor dem Schmerz woanders hindenken. Natürlich ist das viel extremer als beim Zahnarzt, weil jemand komplett in sie eindringt, nicht nur in die Körperöffnungen, sondern auch mit seinem Geruch, mit allem.

Was sagen Sie jenen, die von Freiwilligkeit sprechen?
Ganz ehrlich, ich kenne keine Frau, die es einfach nur aus purer Lust am Sex mit Männern macht. Jede Frau hat ihre Geschichte dahinter. Bei jeder Frau gab es diesen Moment, an dem es Druck gab. Keine Frage, diese Frauen, die von Freiwilligkeit sprechen, sollen es machen, wenn sie es wirklich möchten. Aber nicht auf dem Rücken von Hunderttausenden jungen Mädchen, von denen wir nicht mal die Namen kennen und wir nicht mal merken, wenn sie verschwinden. Da erwarte ich Solidarität. Es kann nicht jeder 1500 bis 3000 Euro die Nacht verdienen. Die Frauen, über die ich rede, die die Majorität stellen, das sind die Frauen, die zwischen 5 und 20 Euro kriegen – und dann noch das Zimmer zahlen, und dann noch Steuern zahlen, und dann noch Geld an ihre Kinder und Familien schicken müssen. Ich war eine gestandene Frau, als ich mit über 40 in die Prostitution kam. Die Frauen, über die ich rede, das sind 18-, 19-jährige Mädchen, die hierhergelockt werden, aber keinerlei Hilfe finden. Das ist wirklich ein Elend. Das hat mir damals, als ich noch aktiv war, bereits das Herz gebrochen.

Wie haben Sie denn den Ausstieg geschafft?
Ich habe einfach Arbeit gefunden.

Gibt es etwas, das Sie sich von Seiten der Politik wünschen würden?
Dass wir Solidarität gegenüber diesen Frauen zeigen. Das bedeutet, dass die Frauen hier Bleiberecht bekommen.

Ganz junge Mädchen kommen hierher, werden hier kaputtgefickt und haben nicht mal Anspruch auf Hartz IV oder sonst was.

Die werden heimgeschickt, aufgepäppelt und landen in Spanien und Italien wieder in der Prostitution. Diese Frauen kommen zu uns und diese Gesellschaft und die Politik lassen zu, dass sie kaputtgemacht werden. Ich wünsche mir, dass wir alle für diese Frauen die Verantwortung übernehmen. Die Frauen brauchen ein Dach über dem Kopf, die Frauen brauchen Bildung. Deswegen sage ich auch zu den "Sexarbeiterinnen", die von Freiwilligkeit sprechen: Zeigt Solidarität.

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