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Antisemitismus in Berlin: "Es gibt keinen alten und neuen Antisemitismus

Jugendliche Leichtigkeit und alte historische Lasten am Holocaust-Mahnmal in Berlin.
Jugendliche Leichtigkeit und alte historische Lasten am Holocaust-Mahnmal in Berlin.Bild: dpa
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"Es gibt keinen neuen und alten Antisemitismus" – ein Hintergrund zur Attacke in Berlin

18.04.2018, 17:2319.04.2018, 18:28
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Was ist passiert?

Ein Video schockiert Deutschland. Drei Unbekannte haben in Berlin zwei junge Männer, die Kippa trugen, antisemitisch beschimpft und attackiert. 

"Eine couragierte Zeugin ging dazwischen und verhinderte durch ihr beherztes Vorgehen weitere Schläge des Täters."
Berliner Polizei

Einer der Angreifer hatte laut Polizei "Juhadi" gerufen – arabisch für "Jude". Nun ermittelt der Berliner Staatsschutz.

1. In Berlin steigt die Zahl antisemitischer Vorfälle:

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) erfasste laut einer Statistik im Jahr 2017 allein in der Hauptstadt insgesamt 947 antisemitische Vorfälle. Darunter waren:

  • 18 Angriffe
  • 23 Bedrohungen
  • 42 Sachbeschädigungen
  • 185 Zwischenfälle von Massenpropaganda
  • 679 Vorfälle verletzenden Inhalts (davon 325 online)

Im  Jahr 2016 hatte RIAS noch 590 antisemitische Zwischenfälle in Berlin gemeldet.

2. Antisemitismus und Islam

Pro-Palästinenser-Demonstration im hessischen Frankfurt.
Pro-Palästinenser-Demonstration im hessischen Frankfurt.Bild: dpa

Die Polizei hält sich mit vorschnellen Vermutungen zum aktuellen Übergriff in Berlin zurück. Aber Studien deuten seit Jahren auf einen wachsenden Antisemitismus unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund hin.

In einer im Jahr 2017 vorgelegten Studie untersuchte der Potsdamer Forscher Günther Jikeli in einer qualitativen Erhebung den Antisemitismus unter 68 Geflüchteten aus Syrien in Deutschland. Sein Ergebnis:

"Ein grundsätzlich negatives Israelbild und eine Infragestellung des Existenzrechts Israels ist für fast alle arabische Interviewte selbstverständlich."

Der Forscher betonte aber auch, dass weitere Umfragen notwendig seien, um ein repräsentatives Bild zu erhalten

Bereits im Jahr 2010 stellten die Sozialforscher Jürgen Mansel und Viktoria Spreyer in einer Erhebung fest: 

  • Bei muslimischen Jugendlichen sei demnach vor allem ein israelbezogener, religiös legitimierter und klassischer Antisemitismus feststellbar. So stimme jeder fünfte arabischstämmige Jugendliche der Aussage zu "in meiner Religion sind es die Juden, die die Welt ins Unheil treiben”.
  • Noch höher liegen die Werte bei klassischen antisemitischen Stereotypen: Der Aussage "Juden haben in der Welt zu viel Einfluss” stimmten 35,8 Prozent der arabischen und 20,9 Prozent der türkischstämmigen Jugendlichen zu.
  • Bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund lag dieser Wert bei 2,1 Prozent.

Dies bedeute aber nicht, dass der Antisemitismus bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund keine Rolle spiele. Antisemitismus zeige sich hier jedoch eher in einer geschichtsrelativierenden Form, erklären die Studienleiter Mansel und Spreyer.

3. Der Antisemitismus der Neuen Rechten

Die Neue Rechte in Deutschland baut aktiv auf Geschichtsrevisionismus.

  • So wetterte der AfD-Politiker Björn Höcke gegen das Holocaust-Mahnmal in Berlin als "Mahnmal der Schande".
  • AfD-Bundessprecher Alexander Gauland fand, man habe "das Recht stolz zu sein auf die Leistung deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen". Zum Holocaust erklärte er: "Man muss uns diese zwölf Jahre nicht mehr vorhalten."

An den neuen relativierenden Tendenzen rund um den neuen nationalen Diskurs in Deutschland übten Shimon Stein, ehemaliger israelischer Botschafter in der Bundesrepublik, und der Historiker Moshe Zimmermann nun heftige Kritik.

"Es ist ersichtlich, dass Anregungen aus dieser Ecke nicht automatisch auf Widerstand der Parteien des Establishments und ihrer Wähler stoßen", schreiben Stein und Zimmermann in einem bemerkenswerten Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". 

Wie passt das alles zusammen?

Meron Mendel arbeitet in der Begegnungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main. Die Bildungseinrichtung arbeitet mit Jugendlichen und Erwachsenen; sie kämpft gegen Rassismus und setzt sich für eine tolerante Gesellschaft ein. Mit watson hat er über Antisemitismus in Deutschland gesprochen. 

Meron Mendel
Meron MendelBild: dpa

Seine Bilanz:

"Ich halte wenig von einer Unterscheidung zwischen neuem und altem Antisemitismus. Aktueller Antisemitismus hat immer auch etwas mit der Vergangenheit zu tun und bezieht sich immer wieder auch auf aktuelle Diskurse."

Meron Mendel zeichnet ein differenziertes Bild:    

  • "Unter muslimisch-geprägten Jugendlichen spielt der Palästina-Konflikt eine entscheidende Rolle, er ist unter bestimmten Teilen der muslimischen Communitys inzwischen zur Projektionsfläche für die Bildung einer Gruppenidentität geworden."
  • "Allerdings dürfen wir auch nicht pauschalisieren. Die muslimische Community wird viel zu häufig als homogene Gruppe dargestellt, was die Vielfalt innerhalb der Communitys verkennt. Beispielsweise sind uns kaum Fälle von Antisemitismus unter bosnischen oder indonesischen Muslimen bekannt."

Die Debatte um den vermeintlich zugewanderten Antisemitismus verschleiere einiges. Meron:

"Die Ausdrucksformen von Antisemitismus im rechten Milieu und unter Muslimen sind zwar verschieden, beide Formen bedienen sich immer wieder klassischer antisemitischer Stereotype und Bilder wie 'jüdische Weltverschwörung' oder 'Weltfinanzjudentum'."

Mit Blick auf die Neue Rechte in Deutschland sagt Meron:

"Die Neue Rechte instrumentalisiert die Debatte, um ihren eigenen Anti-Islamismus zu propagieren und ihren eigenen Antisemitismus zu kaschieren, wenn wir etwa an AfD-Vertreter wie Björn Höcke oder Wolfgang Gedeon denken."
Die Holocaust-Überlebende Mireille Knoll ist im März in Frankreich in ihrer Wohnung von muslimischen Kleinkriminellen ermordet worden. 
Die Holocaust-Überlebende Mireille Knoll ist im März in Frankreich in ihrer Wohnung von muslimischen Kleinkriminellen ermordet worden. Bild: AP

Auch in anderen europäischen Ländern nehmen antisemitische Stimmungen leider zu. 

  • In Ungarn bediente Premier Viktor Orban mit seiner Kritik an US-Milliardär Georges Soros antikapitalistische und antijüdische Klischees.
  • In Frankreich hat es seit 2006 elf Morde an jüdischen Mitbürgern gegeben. Zuletzt war im März die Holocaust-Überlebende Mireille Knoll in ihrer Wohnung überfallen und ermordet worden. Weil sie jüdisch war, vermuteten die jugendlichen muslimischen Täter Geld. Klassisches antisemitisches Stereotyp. Mehr zu diesem Fall hier.

"Antisemitismus ist ein gesamteuropäisches Problem", so Mendel. Deshalb müsse Europa wachsam bleiben.

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