Sie waren Bürger ohne ein entscheidendes Bürgerrecht: Rund 82.000 Menschen in Deutschland waren bislang von Wahlen ausgeschlossen.
Menschen mit Behinderung, die in allen Angelegenheiten gesetzlich betreut werden, durften laut dem Wahlgesetz nicht wählen. Das war grundgesetzwidrig, wie das Bundesverfassungsgericht im Januar entschied.
Der Bundestag nahm daraufhin einen Antrag von Union und SPD für ein inklusives Wahlrecht an – allerdings sollte es erst ab 1. Juli gelten. Demnach wären vollbetreute Menschen bei den Europawahlen am 26. Mai einmal mehr ohne Stimmrecht gewesen.
Raul Krauthausen empfand das als Sauerei. Der bekannte Aktivist im Rollstuhl kämpft seit Jahren für Inklusion – und forderte, dass betreute Menschen ihr Kreuz auch bei den Europawahlen machen dürften.
Ein Eilantrag am Bundesverfassungsgericht von Grüne, Linke und FDP machte das nun doch noch möglich. Am Montagabend fiel die Entscheidung in Karlsruhe: Vollbetreute Menschen dürfen bereits am 26. Mai zur Wahl gehen.
Wir haben mit Raul Krauthausen über die Entscheidung gesprochen.
watson: Warum dürfen betreute Menschen auch bei der Europawahl nicht ausgeschlossen werden?
Raul Krauthausen: Ich denke, es ist eine längst überfällige Entscheidung, dass Menschen, die unter Vollbetreuung stehen, mitwählen dürfen. Es ist bedauerlich, dass das Bundesverfassungsgericht darüber entscheiden musste und sich die Regierungsparteien nicht dazu durchringen konnten.
Gegner des inklusiven Wahlrechts sagen, dass ja bereits vor der Festsetzung der Vollbetreuung eine Überprüfung der Menschen stattfand und diese eben auch nicht wählen sollten, wenn sie in allen Angelegenheiten eine Betreuung brauchen. Was entgegnen Sie diesen Kritikern?
Grundsätzlich sollte eine Demokratie es aushalten, dass Menschen, die unter Vollbetreuung stehen, wählen. Denn im Umkehrschluss könnte man auch sagen, dass viele Menschen, die gar keine Ahnung haben, wen oder was sie wählen, trotzdem zur Wahl gehen.
Dahinter steckt für mich die Frage der Wahleignung. Da hat man das Gefühl, es wird gesagt, die Menschen unter Vollbetreuung könnten gar nicht einschätzen, warum sie wählen.
Warum hat es in Deutschland so lange gedauert, bis das inklusive Wahlrecht kam?
In Deutschland ist der Paternalismus, das heißt, wie wir mit Menschen mit Behinderung umgehen, sehr weit über das Ziel hinausgeschossen. Wir glauben, dass wir Menschen mit Behinderung übertrieben schützen und aus einem Regelsystem heraushalten müssen. Wir erleben das auch im Bereich Schule, dass Menschen im System Sonderschule ausgeschlossen werden.
Wir erleben überhaupt bei der Frage der rechtlichen Teilhabe, dass Menschen mit Behinderung in Deutschland um ihre Rechte kämpfen müssen. Wählen zu gehen, ist ein solches Recht. Deutschland, das sich sonst in der Welt hier als Vorreiter präsentiert, sollte ganz leise sein, wenn es um Menschenrechte geht.
In welchen Bereichen sehen Sie noch Verbesserungsbedarf?
Vor allem im Bereich Bildung. Viele Kinder mit Behinderung sind im Sonderschulsystem untergebracht. Da haben wir auch das Dilemma, dass sich die Bundesländer vom Bund nicht reinreden lassen. Hier werden die Bildungschancen von Menschen mit Behinderung eingeschränkt, sie landen schnell auf einer Schule, auf der sie kein Abitur machen können.
Ausbildungsplätze sind oft nicht barrierefrei. Menschen mit Behinderung müssen in Behindertenwerkstätten Vollzeit arbeiten, aber für weniger als Mindestlohn. Das ist moderne Sklavenhaltung.
Was müssen wir ändern?
Das Thema Inklusion fängt schon in Kindesbeinen an. Wir reden über Menschen mit Behinderung immer noch so, als ob sie vom Regelsystem überfordert wären. Dass Menschen mit Behinderung in der Regelschule gemobbt würden. Das sind riesige Vorurteile, die auch medial geschürt werden. Es sprechen immer nur Menschen, die keine Behinderung haben, nie diejenigen, die eine haben.
Das Tolle ist, dass wir dieses Jahr 10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention feiern und anlässlich dieses Jahres auch der Film „Kinder der Utopie“ am 15. Mai in die Kinos kommt. Der zeigt endlich einmal die Perspektive von Kindern mit Behinderung. Da merkt man, dass die Probleme, die wir gerade medial diskutieren, alle Schüler und Schülerinnen haben, egal ob mit oder ohne Behinderung.
Aber am Beispiels des bisherigen Wahlrechtsausschlusses sieht man, dass schon wieder über Menschen mit Behinderung geschrieben wird, anstatt mit ihnen.
Es spricht Bände darüber, wie viel Unlust die Politiker und Politikerinnen haben, sich mit dem Thema Inklusion auseinanderzusetzen.