Annalena Baerbock auf dem Grünen-Parteitag in Berlin.Bild: dpa / Kay Nietfeld
Politik
13.06.2021, 17:1014.06.2021, 12:35
Die Aussicht auf Regierungsbeteiligung und vielleicht sogar auf das Kanzleramt schweißt die Grünen zusammen. Heftig gestritten wird auf ihrem Parteitag nicht. Stattdessen gibt es Mutmacher-Botschaften für Baerbock, die nach mehreren Patzern unter Druck steht.
Mehr Umverteilung und eine Ausrichtung der
Außenpolitik an Menschenrechten: Zur Bundestagswahl treten die Grünen
mit einem öko-sozialen Wahlprogramm an, das bürgerliche Wähler nicht
verschrecken soll. Forderungen nach radikaleren Veränderungen aus den
Reihen der Mitglieder wurden bei einem dreitägigen Online-Parteitag,
der am Sonntagnachmittag endete, fast alle abgelehnt.
Das Wahlprogramm trägt den Titel "Deutschland. Alles ist drin". Über
die Wortwahl hatte es zuvor Auseinandersetzungen gegeben, die aber
letztlich ohne Kampfabstimmung aufgelöst wurden. Einige Gegner der
Formulierung hatten argumentiert, der Begriff Deutschland lasse eher
an "eine nationalistische Politik" denken. Eine andere Gruppe hatte
erklärt: "Im Mittelpunkt unserer Politik steht der Mensch in seiner
Würde und Freiheit. Und nicht Deutschland."
Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann
sprach Baerbock Mut zu. Er sagte: "Ich bin mir sicher: Du wirst das
schaffen." Die Spitzenfrau der Grünen hatte sich zuletzt für
Ungenauigkeiten im Lebenslauf und verspätet gemeldete Sonderzahlungen
entschuldigen müssen. Über einen kleinen Versprecher in ihrer
Parteitagsrede ärgerte sie sich danach hörbar.
Arbeit und Soziales
In einem ersten Schritt wollen die Grünen die
Hartz-IV-Regelsätze um mindestens 50 Euro anheben. Mittelfristig
solle Hartz IV "überwunden" und durch eine sogenannte
Garantiesicherung abgelöst werden, die ohne "bürokratische
Sanktionen" gewährt werden solle. Außerdem beschlossen die Grünen die
Forderung nach einer Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro. Ein
Antrag aus den Reihen der Delegierten, 13 Euro als Ziel ins
Wahlprogramm zu schreiben, wurde ebenso abgelehnt wie das Ziel einer
30-Stunden-Woche. Die derzeitige Lohnuntergrenze liegt bei 9,50 Euro
und steigt ab Juli auf 9,60 Euro. Nach bisheriger Rechtslage soll der
Mindestlohn dann zum 1. Juli 2022 bei brutto 10,45 Euro liegen.
Die Grünen stellten außerdem fest: "Die langfristige Sicherung des
Rentenniveaus bei mindestens 48 Prozent hat für uns hohe Priorität."
Wirtschaft und Finanzen
Die Partei macht sich für eine Erhöhung des
Spitzensteuersatzes von derzeit 42 auf 48 Prozent stark. Ein Antrag
für einen deutlich höheren Spitzensteuersatz von 53 Prozent
scheiterte. Genauso wie ein Vorstoß, die sogenannte Schuldenbremse
aus dem Grundgesetz zu streichen. Sie sieht vor, dass der Bund nur in
ganz geringem Maße neue Kredite aufnehmen darf, nämlich maximal 0,35
Prozent der Wirtschaftsleistung. Die Grünen wollen sie lockern, um
mehr Raum für staatliche Investitionen zu schaffen.
Steuererleichterungen schließen die Grünen im Bundestagswahlkampf
unter dem Strich aus – der Staat soll nicht weniger Steuern
einnehmen. Eine entsprechende Formulierung des Vorstands für das
Programm zur Bundestagswahl bestätigten die Delegierten beim
Online-Parteitag. Dafür fehle der Spielraum, heißt es zur Begründung.
"Angesichts der Corona-Krise wird die öffentliche Haushaltslage in
den kommenden Jahren sehr angespannt sein."
Außenpolitik und Verteidigung
Kanzlerkandidatin Baerbock betonte,
dass Menschenrechte in der Außenpolitik grundsätzlich mehr Gewicht
haben sollen als wirtschaftliche Interessen. Die deutsch-russische
Gaspipeline Nord Stream 2, von der Regierungskoalition aus Union und
SPD befürwortet, hält sie auch aus Klimaschutzgründen für falsch. Im
Umgang mit autoritären Regimes sei ein Zweiklang von "Dialog und
Härte" der richtige Weg. Von China verlangt die Partei "ein Ende
seiner eklatanten Menschenrechtsverletzungen". In der Klimapolitik
wolle man zusammenarbeiten.
Russland habe sich "zunehmend in einen autoritären Staat gewandelt
und untergräbt immer offensiver Demokratie und Stabilität in der EU
und in der gemeinsamen Nachbarschaft", heißt es nun im Programm.
Die Grünen wollen die Anschaffung bewaffneter Drohnen für die
Bundeswehr nicht grundsätzlich verbieten. Allerdings muss vor einer
solchen Entscheidung aus ihrer Sicht erst "klargemacht werden, für
welche Einsatzszenarien der Bundeswehr die bewaffneten Drohnen
überhaupt eingesetzt werden sollen". Die Befürworter dieser
Formulierung setzten sich mit einer sehr knappen Mehrheit gegen die
von Rechtspolitikerin Katja Keul und anderen vorgeschlagenen Forderung nach einem generellen Verbot durch.
Die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland war kein großes Thema
auf dem Parteitag. In der Debatte blieb es beim Appell, an den
EU-Außengrenzen legale Zugangswege zu ermöglichen. Die Grünen wollen
zudem neue Möglichkeiten für Bildungs- und Arbeitsmigration schaffen.
Gesellschaft
Für eine Debatte sorgte die Forderung, jeder solle
seine Geschlechtsangabe bei den Behörden einfach ändern lassen
können. Die Grünen setzen sich für eine Aufhebung des
Transsexuellengesetzes ein. Dies sieht unter anderem vor, dass
jemand, der sich einem anderen als seinem biologischen Geschlecht
zugehörig fühlt, seit mindestens drei Jahren entsprechend lebt.
Innere Sicherheit
Trotz rechtsextremer Chats und anderer Skandale in
jüngster Zeit stellen sich die Grünen hinter die Ordnungshüter.
"Deutschland ist ein sicheres Land. Das liegt auch an einer gut
arbeitenden Polizei", heißt es in ihrem Programm. Die Grünen wollen
die Verfügbarkeit von tödlichen Schusswaffen "schrittweise beenden".
Ausgenommen davon seien Jäger, die ihre Aufgaben ohne diese Waffen
nicht erfüllen könnten. Im Bereich des Schießsports wollen sich die
Grünen im Dialog mit den Sportschützen "für die Umstellung auf nicht tödliche Schusswaffen" einsetzen.
Politische Mitbewerber
"Was die Grünen heute im Wahlprogramm zur
Migration beschlossen haben, ist ein gefährlicher Irrweg",
kommentierte der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Mathias
Middelberg (CDU). Die "aktive Einwanderungspolitik" der Grünen würde
einen neuen "unkontrollierbaren Zuwanderungssog nach Deutschland"
auslösen. SPD-Fraktionsvize Achim Post sagte: "Der oberflächliche
soziale Anstrich, den sich die Grünen jetzt noch kurz vor der Wahl
verpassen wollen, wird kaum ausreichen, um unseren Sozialstaat auch
nach der Bundestagswahl zu stabilisieren und auszubauen." FDP-Chef
Christian Lindner sagte der "Rheinischen Post", Baerbock müsse "Farbe
bekennen bei der Frage, ob sie sich mithilfe der Linkspartei ins
Kanzleramt wählen lassen würde".
Eine Koalitionsaussage trafen die Grünen auf dem Parteitag nicht,
auch wenn die SPD als Lieblingspartner gilt. "Wenn man die Punkte
unseres Parteiprogramms ernst nimmt, dann kann man meiner Meinung
nach nicht in eine Koalition mit der CDU/CSU gehen", sagte die
Bundessprecherin der Grünen Jugend, Anna Peters, dem Sender
"Phoenix".
(dpa/jab)
Zu groß waren die Differenzen, zu groß die Ablehnung seiner Person: Rechtspopulist Geert Wilders musste Mitte März bekannt geben, doch keine Ansprüche mehr auf das Premierminister-Amt in den Niederlanden zu erheben.