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Dokumente aus den innersten Zirkeln der sowjetischen Machtzentrale geben einen Einblick, wie der Kreml die Reaktorkatastrophe vertuschen wollte.
Nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl griff das sowjetische Gesundheitsministerium zu einem Trick: Als nach dem Super-GAU 1986 die Opferzahlen stiegen, stiegen offiziell auch die Zahlen jener, die angeblich unversehrt die Krankenhäuser verlassen konnten.
Wie das ging, zeigen Dokumente, die das "National Security Archive" nun zugänglich macht: Das Gesundheitsministerium setzte den als kritisch erachteten Grenzwert für radioaktive Strahlung, dem eine Person maximal ausgesetzt sein durfte, wird schlicht um ein Vielfaches herauf. Zehn- bis Fünfzigfach so hoch wie zuvor durfte die Dosis fortan sein. Es war nur eine von vielen Verschleierungstaktiken.
"Der Kreml unternahm große Anstrengungen, das Ausmaß das Strahlungsdebakel zu verdecken", schreibt die Journalistin Alla Yaroshinskaya in einem Essay zur Veröffentlichung der Dokumente. Yaroshinskaya hatte Teile der Dokumente bereits im Jahr 1991 in ihren Besitz gebracht – noch während des schleichenden Zusammenbruchs der Sowjetunion. Nicht ohne Sorgen. "In diesem Land ist alles so unbeständig", schreibt sie über ihre Gefühle damals. "Und wenn die Kommunisten morgen wieder an die Macht gelangen, was wird aus meiner Familie werden?"
Im Folgenden sei ihr aber klar geworden, dass die Täuschung über die Katastrophe in Tschernobyl ebenso gewaltig wie das Reaktorunglück selbst war. In diesem Bemühen schreckten einige Akteure auch vor der Gefährdung von Menschenleben nicht zurück – beispielsweise indem sie keine zwei Monate nach der Kernschmelze die "Re-Evakuierung" in die Nähe der Gefahrenzone anordnete. Auch von Schwangeren und Kindern.
Ein geheimes Zusatzprotokoll des Politbüros empfahl später sogar die Verarbeitung kontaminierten Fleisches in Würstchen und Konserven. Laut Yaroshinskaya brachten die 47.500 in den kontaminierten Zonen produzierten Tonnen Fleisch und Milch bis 1989 insgesamt 75 Millionen Menschen in Gefahr. Dabei beruft sie sich auf spätere Angaben der sowjetischen Generalstaatsanwaltschaft von 1991.
Wie rigoros das Regime zu verhindern versuchte, dass Informationen über das wahre Ausmaß der Katastrophe Verbreitung finden, zeigt ein Dokument der ukrainischen KGB-Sektion. Demnach spähte der Dienst verdeckt die Diskussionen internationaler Studenten über die Explosion in Tschernobyl aus. Die Informanten wurden anschließend angewiesen, diejenigen zu identifizieren und zu lokalisieren, die die vermeintlichen Gerüchte verbreiteten.
Stoppen konnten jedoch auch die Geheimdienste nicht, dass immer mehr Informationen ans Licht kamen. Hunderttausende Menschen wurden evakuiert, Zehntausende in Krankenhäusern behandelt. Das blieb nicht verborgen. Ausländische Nachrichtensender berichteten intensiv über das Unglück – und wurden auch in der Sowjetunion empfangen. Wieso nutzte der Westen das auf der Höhe des Kalten Krieges nicht exzessiv aus?
Der Sicherheitsberater der US-Regierung, John Matlock, war sich der Möglichkeit bewusst, das "PR-Fiasko" der sowjetischen Führung zu instrumentalisieren, wie aus einem Dokument hervorgeht. Er fürchtete allerdings um die Meinung in Europa – und darum, dass sich Sowjetführer Michail Gorbatschow durch ein allzu offensives Vorgehen in die Ecke gedrängt fühlen könnte.
Vermutlich lag er richtig. Laut Dokumenten gab es im Politbüro bereits im Juli 1986 hitzige Diskussionen: Das sowjetische System solle durch die Fehler bei der Bewältigung der Katastrophe weder bei der Bevölkerung noch im Westen in Misskredit geraten. Drei Jahre lang galt deswegen eine Zensur – entgegen der von Gorbatschow in den Dokumenten vertretenen Position, man solle alle Informationen offenlegen. Nun sind die Dokumente erstmals auch auf Englisch verfügbar.
Dieser Artikel erschien zuerst bei t-online.de.