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Tiktok: Mutter klärt über Tabu bei traumatischer Geburt auf – geht viral

Für viele Mütter* ein besonderer Moment: das eigene Kind das erste Mal sehen.
Für viele Mütter* ein besonderer Moment: das eigene Kind das erste Mal sehen.bild: Gabriel Tovar / Unsplash
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Virales Tiktok: Mutter berichtet von Trauma und Tabu rund um Geburt

Es sollte der glücklichste Moment im Leben von Arislendy Rosario werden. Doch als ihr neugeborenes Kind das Licht der Welt erblickte – und damit einhergehend den ersten Schrei von sich gibt – spürt die Mutter nichts.
18.09.2025, 07:5618.09.2025, 07:56

Triggerwarnung: In folgendem Artikel geht es um traumatische Erfahrungen, die während Geburten erlebt wurden. Das kann für Menschen mit ähnlichen Erlebnissen triggernd sein und für Unbetroffene beängstigend wirken.

"Ihr erster Schrei hätte der lauteste Klang meines Lebens sein sollen. Stattdessen fühlte es sich an, als wäre ich unter Wasser ... ich sah, hörte, existierte – aber ich fühlte nichts", erklärt Arislendy Rosario in einem Tiktok, das innerhalb weniger Tage bereits mehr als 40 Millionen Aufrufe hat.

In dem Video ist sie direkt nach der Geburt ihres Kindes zu sehen. Zu hören: die Schreie ihres Babys. Doch sie liegt auf einem Krankenhausbett, unfähig, sich zu bewegen.

Tiktok: Virales Video erzählt von dissoziativem Zustand nach Geburt

"Ich wünschte, ich könnte euch sagen, was ich dachte, aber ich erinnere mich nur daran, dass ich mich außerhalb meines Körpers fühlte" erklärt sie in der Caption des viralen Tiktok-Videos.

Sie erinnere sich noch sehr genau an das Gefühl, davonzuschweben. Gegenüber "People" erklärt sie im Detail:

"Ich erinnere mich nur daran, dass, als meine Tochter aus mir herauskam und sie sie mir auf die Brust legten, und als ich sicher war, dass es ihr gutging – daran erinnere ich mich. Aber danach weiß ich nichts mehr".

Erst Jahre später, als sie das Video wieder anschaute, dämmerte ihr eine Ahnung, was es gewesen sein könnte. Diese beängstigende Situation ist mittlerweile mehr als ein Jahrzehnt her – und erst heute versteht Rosario, was ihr wirklich passiert ist und teilt ihre Erfahrung.

Tiktok-Video wird zum Safe Space für traumatisierende Erfahrungen

Mit ihrer traumatisierenden Erfahrung ist Arislendy aber nicht allein. Unter ihrem Tiktok finden sich hunderte Erfahrungsberichte: Viele haben Ähnliches erlebt wie sie.

"Sie haben meine Tochter zu mir gelegt und alles, was ich wollte, war, dass mein Ehemann sie nimmt. Ich war in Schock und habe dissoziiert", schildert ein:e User:in. In dissoziativen Zuständen können Betroffene oft nicht zwischen Realität und Gedanken unterscheiden.

"Niemand versteht, dass wir buchstäblich fast sterben."
Beschreibt ein:e Nutzer:in die Geburt.

Einige berichten auch von schlimmen Erfahrungen, die sie mit dem Pflegepersonal rund um die dissoziativen Umstände der Geburt machen mussten. In einem Kommentar steht etwa:

"Ich erinnere mich an den abfälligen Blick, den mir die Krankenschwester zuwarf, als sie mir mein Baby nach dem Herausholen auf den Bauch legte. Da ich dissoziiert war, verdrehte sie die Augen und brachte ihn zum Nebenbett, um ihn sauberzumachen. Bis heute fühle ich mich schlecht dafür, dass ich in diesem Moment dissoziiert habe."

Rosario rät Betroffenen gegenüber "People", sich nicht in die Irre führen zu lassen: "Du hast so etwas durchlebt und musst mit dir nachsichtiger sein. Jede Erfahrung sieht für jede Person anders aus, aber wir alle verdienen Respekt".

"Wir verdienen Liebe", erklärt sie weiter. "Und uns selbst zu lieben, müssen wir auch lernen".

Expertin erklärt die beängstigenden Zustände nach einer Geburt

Den Beginn dieser versöhnlichen Reise zur Selbstliebe machen auch einige der Kommentierenden unter Rosarios Video: "Der Körper durchlebt während der Geburt ein enormes Trauma. Diese Phase der Dissoziation ist ein Überlebensmechanismus", beschreibt eine User:in.

Margit Wurz, eine österreichische Psychologin und Psychotherapeutin, bestätigt diesen Eindruck in einem Beitrag auf der Website des Vereins freier Hebammen:

"In solchen höchst bedrohlich empfundenen Situationen, in denen unsere üblichen Bewältigungsstrategien nicht mehr ausreichen, schaltet unser Gehirn automatisch auf ein Notfallprogramm, das sich in der Evolution sehr bewährt hat. Ziel ist es, eigentlich unaushaltbare Situationen doch irgendwie zu überleben. In diesem Notfallmodus haben wir nur drei Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung: Kampf, Flucht oder Totstellreflex (Freezing)."

Tatsächlich werden Studien zufolge etwa 20 Prozent aller Geburten als traumatisch erlebt. Auch unkomplizierte, als "normal" bezeichnete Geburten können traumatisch wirken und einen bleibenden Effekt mit sich ziehen.

Trauer nach der Geburt: Mütter können sich davon erholen

Um sich von einer Geburt zu erholen, braucht ebenso wie der Körper auch die Psyche Zeit, um sich zu erholen. Da ist es in dieser Extremsituation auch normal, sich nicht sofort über das eigene Kind zu freuen.

Auch Liebe zum eigenen Kind zu verspüren, ist nichts Sonderliches, sondern eine natürliche Reaktion. Denn beim sogenannten Totstellreflex werden alle Gefühle auf ein absolutes Minimum reduziert. Sich davon zu erholen, kann wochenlang dauern.

"Ich weiß, dass ein größeres Bild von Mutterschaft gezeichnet wird – dass es nur diese freudigen Momente und all die schönen Dinge sind", berichtet Rosario gegenüber "People". Aber "ich habe das Gefühl, dass es noch andere Seiten der Mutterschaft gibt, über die kaum jemand spricht." Ihre Erfahrung sei eine davon.

Psychotherapeutin Margit Wurz ordnet das in ihrem Beitrag so ein:

"Sie erleben sich selbst über weite Strecken 'wie Hüllen, die irgendwie funktionieren, aber nicht wirklich leben' und haben das Gefühl, 'sich selbst nicht wiederzuerkennen' (Depersonalisationserleben). Auch die Umgebung und der Alltag wird oft 'unwirklich und fremd' erlebt (Derealisationserleben), so als 'wäre man im falschen Film gefangen'".

Auch bei einer nichttraumatischen Entbindung ohne den Totstellreflex zeigen 50 bis 80 Prozent aller Mütter* innerhalb der ersten Woche die "Baby Blues".

Der verharmlosende Begriff verschleiert jedoch, dass es sich hierbei um eine kurz andauernde depressive Verstimmung handelt, die ebenso ernst genommen werden sollte. Denn die Freude über das eigene Kind wird dabei übertönt von Stimmungsschwankungen, Traurigkeit und Schlaf- und Ruhelosigkeit.

In der Regel vergeht diese depressive Verstimmung nach einer erholenden Phase wieder. Sollte das nicht der Fall sein, sollten Mütter* sich an Psychotherapeut:innen wenden, um gemeinsam an der Aufarbeitung des Erlebten arbeiten zu können.

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