Als monogames Paar fühlt man sich zuweilen wie ein Relikt aus der Steinzeit. Denn in Filmen, auf Blogs und im Freundeskreis gewinnt ein Beziehungsmodell auf den ersten Blick an begeistertem Zulauf: das Offene.
Mit dem Segen der Partner:in auch Sex mit weiteren haben zu dürfen, klingt für viele Menschen ziemlich verführerisch. Und das zulassen zu können, suggeriert zudem Vertrauen, sowie Coolness und Verwegenheit. Obendrauf wirft das Thema in der öffentlichen Debatte zum Teil berechtigte Fragen auf: Ist Monogamie nur ein Konstrukt, das patriarchale Strukturen untermauert? Wurde Monogamie von der Kirche erfunden? Von Hollywood? Ist sie schlicht eine Lüge?
Andererseits kennt vermutlich jeder in seinem Freundeskreis ein Paar, für die nach der "Öffnung" sehr schnell auch die Trennung kam. Manchmal verliebte sich sogar jemand in den oder die Dritte im Bunde. Und so ist es vielleicht ganz normal, dass man ins Grübeln kommt, wenn der oder die Liebste fragt: "Wollen wir nicht eine offene Beziehung ausprobieren?!"
Verbirgt sich hier vielleicht die Chance auf eine unerwartete Bereicherung in der Liebe? Oder ist so ein Vorschlag nur ein Versuch, mit Erlaubnis fremdzugehen?
Paartherapeutin Julia Henchen sagt, entscheidend sei vor allem, wann und warum die Idee aufkommt. "Offene Beziehung – gerade hören wir es immer öfter und Anfragen zum Thema habe ich auch oft in meinem Postfach", berichtet sie aus der Praxis, "sie werden aber leider oft zum 'falschen Zeitpunkt' eingeführt."
Sie ist Sexualtherapeutin in Baden-Württemberg und Autorin des Buches "Lustfaktor" (mvg Verlag). Im Gespräch mit watson erzählt sie, was sie bei ihrer Arbeit mit Paaren beobachtet.
"In meiner Praxis erlebe ich immer wieder Menschen, deren Beziehung nicht mehr läuft", sagt sie. Man fühlt sich nicht mehr nahe, hat vielleicht die Lust an Sex miteinander verloren. Ab und an spielen gerade solche Paare dann auch mit dem Gedanken an eine offene Beziehung, wie Henchen weiter erklärt:
Aus diesen Problemen heraus entspringe zuweilen die Idee, die vorher bestehende Monogamie fallenzulassen. Als vermeintlich reizvolle und zeitgemäße Lösung eines Konflikts sei das aber nicht zu empfehlen. "Die bittere Wahrheit ist", so die Therapeutin dazu, "das geht fast immer nach hinten los".
"Meist will das nämlich nur eine Person wirklich und die andere zieht aus Liebe mit und redet sich dann ein, das sei doch spannend. Das ist keine gute Basis", gibt Julia Henchen zu Bedenken. "Zudem sind emotionale Verletzungen unvermeidlich, wenn Sex mit anderen offiziell erlaubt wird, eine Person dies aber nicht möchte. Eine gesunde Beziehung, kann das auffangen, aber wenn das emotionale Gerüst zueinander eh schon wackelig war, kracht es spätestens dann zusammen."
Wenn eine Beziehung eingeschlafen sei, habe das "Gründe, die man sich anschauen müsste", so die Therapeutin weiter. Zusammen könnte man diesen Gründen auf die Spur kommen und sie unter Umständen gemeinsam beheben. "Wenn man aber stattdessen einfach noch einen Dritten in die eh schon angeknackste Beziehung holt, ist das nicht hilfreich." Denn das Problem aus der Beziehung würde ja nicht gelöst, "sondern eher noch eines obendrauf gesetzt".
Dennoch gibt es natürlich Liebende, die sehr gerne und glücklich in offenen Beziehungen miteinander leben. Das seien allerdings meist Menschen, die sowieso zufrieden miteinander seien, berichtet Julia Henchen. Der Zeitpunkt der Öffnung spielt auch hier eine Rolle:
Wenn Monogamie aufgehoben wird, spielt Vertrauen und Nähe eine noch größere Rolle als vorher. Wer ausreichend davon zwischen sich hat, ist stark genug, um sich auf ein solches Herzensexperiment einzulassen.
"Eine Beziehung hingegen, die vorher schon ihre Probleme hatte, wird durch das Öffnen nicht plötzlich besser", sagt Julia Henchen abschließend dazu: "Ganz im Gegenteil. Aus meiner Praxis muss ich leider sagen: Gerade die Klienten, die sich das erhofft haben, sind heute nicht glücklicher, sondern getrennt."