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So beschrieb Edith Kraus, Überlebende des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, eine bizarre Begebenheit aus der Endphase der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft. Bubi – das war Anneliese Kohlmann. Sie war, in Häftlingskluft verkleidet, in das Lager zurückgekehrt, in dem sie zuletzt als Aufseherin gewesen war. Sie war zurückgekehrt in ein Inferno des Massensterbens.
Kohlmann am 23. April 1945. Bevor sie KZ-Aufseherin wurde, hatte sie als Strassenbahnschaffnerin gearbeitet. Bild: wikimeedia/george roger
Bergen-Belsen war zwar kein Vernichtungslager wie Sobibor oder Treblinka. Doch auch dieses Konzentrationslager war eine menschengemachte Hölle. Im April 1945, kurz vor Kriegsende, platzte Bergen-Belsen aus allen Nähten – zehntausende von Häftlingen aus anderen Lagern waren hierhin überführt worden. Es gab weder genug Unterkünfte noch sanitäre Einrichtungen, weder genug Wasser noch Essen. Dafür gab es Seuchen und Terror.
Als britische Truppen das Lager am 15. April befreiten, lagen überall Sterbende und Leichen herum. Und das Sterben ging auch nach der Befreiung weiter: Von den rund 60.000 noch lebenden Häftlingen starben in den nächsten Tagen 14.000. Insgesamt kamen in Bergen-Belsen mehr als 50.000 Menschen um.
Hunger und Krankheit: Frauenbaracke in Bergen-Belsen nach der Befreiung. Bild: dpa
Warum nur kehrte die Aufseherin Anneliese Kohlmann in dieses Inferno aus Seuche, Hunger und Tod zurück? Bubi, wie Kohlmann wegen ihres knabenhaften Äußeren von den Häftlingsfrauen genannt wurde, hatte sich verliebt. In Lotte Winter aus Prag.
Kohlmann, die seit 1940 NSDAP-Mitglied war und seit Anfang November 1944 Dienst als SS-Aufseherin tat, hatte die jüdische Tschechin im KZ-Außenlager Tiefstack des Hamburger KZs Neuengamme kennengelernt. Dort war sie seit Februar 1945 Aufseherin.
Das ehemalige Aussenlager Tiefstack. Bild: kz-gedenkstätte neuengamme
Als das Außenlager am 7. April aufgelöst und die Häftlinge nach Bergen-Belsen gebracht wurden, gehörte Kohlmann zur Begleitmannschaft. Sie wollte offenbar in Bergen-Belsen bleiben, um in der Nähe von Winter zu sein, doch Lagerkommandant Josef Kramer erlaubte ihr dies nicht.
So ging Kohlmann zuerst wieder nach Hamburg, kehrte aber bereits am 8. April von dort ohne Genehmigung ins Lager Bergen-Belsen zurück, wie sie später vor dem britischen Militärgericht zu Protokoll gab:
Bei ihrer unerlaubten Rückkehr nach Bergen-Belsen wurde Kohlmann von Lotte Winters Verlobtem begleitet, dem aus dem KZ Auschwitz entflohenen Häftling Willi Brachmann. Sie hatte sein Vertrauen, da sie schon zuvor Lebensmittel und Briefe von ihm ins Lager Tiefstack geschmuggelt und Winter übergeben hatte.
Doch Kohlmann, die sich übrigens trotz ihrer Neigung zu Frauen 1943 mit einem Mann verlobt hatte, machte sich Illusionen: Ihre Liebe zu Winter beruhte nicht auf Gegenseitigkeit. Und die Häftlingsfrauen in Bergen-Belsen waren keineswegs gewillt, sie als Unschuldige zu verteidigen. Eine der Insassinnen erinnerte sich später wie folgt:
Die Aufseherinnen Marta Löbelt, Getrud Rheinhold, Irene Haschke und Anneliese Kohlmann (v. l.) am 2. Mai 1945 nach ihrer Festnahme in Bergen-Belsen. Kohlmann steckt in einer Männeruniform, weil sie bei der Verhaftung Häftlingskleidung trug. Bild: wikimeedia commons
Am 17. April wurde Kohlmann in Bergen-Belsen festgenommen. Die Häftlingskleidung musste sie abgeben; man steckte sie in eine Männeruniform. In den Tagen danach musste sie – zusammen mit verhafteten Aufseherinnen und SS-Wachpersonal – tausende von Leichen auf dem KZ-Gelände einsammeln und in Massengräbern bestatten. George Rodger vom amerikanischen Magazin "Life" fotografierte sie bei dieser grausigen Arbeit.
Danach kam Kohlmann in Untersuchungshaft, bis sie sich ab Mitte Mai als Angeklagte vor einem britischen Militärgericht wegen Misshandlung von Häftlingen zu verantworten hatte. In diesem sogenannten Zweiten Bergen-Belsen-Prozess plädierte sie auf "nicht schuldig". Sie gab zu, dass sie Gefangene geschlagen hatte, dies jedoch nur, "wenn es keine Alternative mehr gegeben" habe. Sie rechtfertigte sich ferner so:
Kohlmann in britischem Gewahrsam in Bergen-Belsen. Bild: wikimeedia commons
Doch einige ehemalige Häftlingsfrauen belasteten Kohlmann schwer:
Während andere KZ-Aufseherinnen wie Irma Grese – die "Hyäne von Auschwitz" – oder Elisabeth Volkenrath zum Tod verurteilt wurden, ließ das Gericht bei Kohlmann Milde walten: Sie erhielt zwei Jahre Freiheitsstrafe unter Abzug der Untersuchungshaft, die sie im Hamburger Gefängnis Fuhlsbüttel vollständig absitzen musste.
Nachdem sie aus dem Gefängnis entlassen wurde, lebte sie bis 1965 in Hamburg und zog dann nach West-Berlin um. Dort starb sie am 19. September 1977 im Alter von 56 Jahren. Außer den Daten zu Umzug und Tod ist über ihr Leben nach der Haftentlassung nichts bekannt.