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Die vergessenen Kinder: So schlimm trifft Corona die Kinderheime

Alleine im letzten Jahr wurden 45.444 Inobhutnahmen in ein Kinder- und Jugendheim vorgenommen.
Alleine im letzten Jahr wurden 45.444 Inobhutnahmen in ein Kinder- und Jugendheim vorgenommen. Bild: www.imago-images.de / GORYAYNOVA
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Die vergessenen Kinder: So schlimm trifft Corona die Kinderheime

14.12.2021, 10:4415.12.2021, 10:50
theresa b.
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Über das Wohl und den Schutz von Kindern während der Corona-Pandemie wird viel geredet – wenn auch zu wenig Konkretes geleistet. Die Rede ist von Kitas, Kindergärten und Schulen. Aber was ist mit den über 37.000 Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland (Stand 2018), in denen die jüngsten Mitglieder der Gesellschaft auf engstem Raum leben? Wo die häusliche Quarantäne einen isolierten Aufenthalt im Zimmer bedeutet und als einziger Kontakt die – häufig überarbeiteten und zeitlich gestressten – Betreuenden erlaubt sind, die gleichzeitig teilweise die einzigen Bezugspersonen der Kinder und Jugendlichen sind?

Alleine im Jahr 2020 gab es laut Statista insgesamt 45.444 Inobhutnahmen, rund 7.600 aufgrund von unbegleiteter Einreise. Gleichzeitig gab es in diesem Jahr 3.744 Adoptionen von Mädchen und Jungen, etwa jedes dritte Kind war dabei im Alter von zwei bis drei Jahren. Die Pandemie verschärft diese Lage nochmal: Im Jahr 2020 wurden von den Jugendämtern in Deutschland knapp 194.500 Verfahren zur Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls durchgeführt – der höchste jemals gemessene Wert.
statista

Theresa B. (Name v.d.Red.geändert) ist 31 und arbeitet als Heilerziehungskraft in einem Kinder- und Jugendheim in Bayern. Dort werden Kinder und Jugendliche betreut, die entweder aufgrund von Kindeswohlgefährdung nicht mehr zu Hause leben können oder deren Eltern stark überfordert sind. Aber auch Kinder und Jugendliche, die psychisch krank sind, die aufgrund ihrer Situation besonderen Betreuungsbedarf haben oder die aus Kriegsgebieten sind und ihre Familien verloren haben.

Theresa hat watson von den Herausforderungen ihres Alltags erzählt. Außerdem berichtet sie, wie die Kinder im Pflegeheim besonders unter Corona leiden und wie sie von der Politik vergessen werden.

Wir gestalten praktisch den kompletten Alltag der Kinder und Jugendlichen. Wir besuchen Elternabende, wir helfen bei den Hausaufgaben, wir gehen mit den Kindern Kleidung einkaufen, zu Arztterminen, wir kochen und machen gemeinsame Ausflüge: Wir übernehmen also auch die Aufgaben, die eigentlich in Familien stattfinden sollten. Von vielen der Kinder und Jugendlichen sind meine Kollegen und ich wirklich die einzigen Bezugspersonen, weil es die familiäre Situation nicht anders zulässt.

Meine Erfahrung und die meiner Kollegen ist, dass wir so viele Corona-Fälle in den Gruppen haben wie noch nie. Es ist vor allem durch die Infektionsketten dramatisch. Da es vermehrt Impfdurchbrüche gibt und wir Kinder betreuen, die sich (noch) nicht impfen lassen können, sind wir dazu übergegangen, uns privat soweit es geht zu isolieren und unsere Kontakte zu reduzieren. Auch weil es unter den Kollegen welche gibt, die Risikogruppen als Familienmitglieder haben oder selbst dazu zählen.

Wenn wir einen Corona-Fall haben oder ein Kind in Quarantäne muss, darf es sein Zimmer nicht mehr verlassen, außer natürlich es muss ins Bad oder wenn es zum Testen fahren muss. Das Kind darf aber nicht mehr am gemeinsamen Essen teilnehmen und muss zu den anderen Kindern in der Gruppe Abstand einhalten. Wir müssen dann zusätzlich auf Hygiene achten, was auch bedeutet, beispielsweise Desinfektionsmittel zu benutzen, FFP2-Masken zu tragen und auf die Hygienemaßnahmen zu achten.

"Was ich sehr schlimm und bedrückend finde, ist, dass zur Zeit vieles verloren geht, was sonst schön ist und eine Gemeinschaft zusammenhält."

Insgesamt macht Corona den Alltag oft sehr steril, sehr belastend und ist wegen des Fachkräftemangels nur schwer zu bewältigen. Wir versuchen, es den Kindern während der Quarantäne so angenehm wie möglich zu machen, indem wir sie regelmäßig in ihrem Zimmer besuchen und uns mit ihnen beschäftigen. Das ist ein sehr schwieriger Zustand, weil man oft einfach zu wenig Personal hat, um sagen zu können: Einer beschäftigt sich jetzt mit einem Kind in Quarantäne für ein oder zwei Stunden und der andere Kollege kümmert sich um die restlichen Kinder.

Was ich sehr schlimm und bedrückend finde, ist, dass zur Zeit vieles verloren geht, was sonst schön ist: Zusammen lachen, unbeschwerte Zeit genießen, längerfristige Pläne machen, sich auf Weihnachten ohne Sorge freuen... Das merkt man auch den Kindern und Jugendlichen an. Sie kriegen alles mit und es ist sehr belastend. Natürlich auch, weil sie sich große Sorgen machen, dass sie meine Kollegen und mich oder andere Kinder aus der Gruppe anstecken könnten. Denn die Kinder gehen ja auch ganz normal in die Schule oder in die Kindergärten. Sie nehmen am gesellschaftlichen Leben teil. Das wird bei Kinderheimen immer wieder vergessen – so ist zumindest mein Empfinden. Die Kinder haben Angst, dass wir an Corona sterben, denn wir sind oft ihre einzigen Bezugspersonen.

"Und dann kamen die Fragen. Warum darf ich nicht nach Hause fahren und meine Eltern besuchen und die dürfen miteinander grillen?"

Ich glaube nicht, dass es in in der Gesellschaft, in den Köpfen der Menschen angekommen ist, wie viele Kinder und Jugendliche eigentlich im Kinderheim leben. Das kann man in den Medien sehen: Da ist immer sehr viel von Kindergärten und Schulen die Rede, von der Notbetreuung, aber nicht von Kinderheimen oder von der Jugendhilfe. Man hat viele Situationen in der Pflege, im sozialen Bereich oder überhaupt für systemrelevante Berufe wenig verbessert. Meine Kollegen und ich haben immer noch sehr stark das Gefühl, dass die Jugendhilfe eine Randnotiz ist, in der Politik.

Aktuell haben wir zum Beispiel das Problem, dass die Schnelltests knapp werden und wir die über unseren Hauptarbeitgeber anfordern müssen, was wieder einen riesigen Aufwand darstellt. Wir haben jetzt schon öfters die Situation gehabt, dass unsere Kinder von der Schule kamen und Mitschüler positiv waren, aber dass die Kinder nicht in Quarantäne gekommen sind und wir sie dann selber testen mussten. Und das ist natürlich eine Vollkatastrophe, wenn du in der betroffenen Wohngruppe arbeitest.

In den Schulen müssen die Kinder weiterhin Maske tragen (Symbolbild).
In den Schulen müssen die Kinder weiterhin Maske tragen (Symbolbild).Bild: iStockphoto / Drazen Zigic

Die Kinder und Jugendlichen stellen auch sehr schwierige Fragen an meine Kollegen und mich. Die sind natürlich nicht doof. Als im Sommer viele der Maßnahmen gebrochen wurden und die Leute miteinander gegrillt haben, kamen die Fragen: Warum darf ich nicht nach Hause fahren und meine Eltern besuchen und die dürfen miteinander grillen? Denn wir haben Kinder und Jugendliche, die in regelmäßigen Abständen nach Hause fahren.

Im Rahmen des Infektionsschutzes in der ersten Welle wurden diese Heimfahrten, die für die Kinder sehr wichtig sind, von der Regierung komplett ausgesetzt und wir wussten auch nicht, wann sich das ändert. Im Moment fragen uns die Kinder, warum die Regierung erst die Schulen geschlossen hat und es jetzt egal ist, wenn sich Mitschüler anstecken und der Rest der Klasse weiterhin zur Schule geht.

"Die Kinder fragen auch, ob das wirklich so schlimm ist, an Corona zu sterben, wie es in den Medien steht."

Außerdem kommt oft die Frage, ob das wirklich so schlimm ist, an Corona zu sterben, wie es in den Medien steht. In der ersten Welle hat eine italienische Ärztin berichtet, dass ein Tod an Corona so ähnlich sei, wie zu ertrinken oder zu ersticken. Das haben die Medien natürlich sehr ausgeschlachtet und das haben unsere Kinder auch gehört – sie hatten dann große Angst und viele Fragen. Die Kinder lesen und hören sehr viel in den Medien, das kann man nicht immer verhindern. Sie kommen oft mit diesen Boulevard-Horror-Artikeln an: Solche Geschichten beschäftigen die Kinder sehr und deswegen bekommen sie auch Angst. Ich kann auch beobachten, dass die Kinder sich sehr viel mehr mit dem Tod beschäftigen.

Für viele unserer Kinder ist die Situation besonders schwer zu bewältigen: Denn wir haben auch Kinder in der Jugendhilfe, die den Krieg in Afghanistan oder Syrien miterlebt haben. Als die Menschen in der ersten Welle Hamsterkäufe machten, hatten wir eine sehr traumatische Versorgungssituation. Wir wussten oft nicht, wie wir ausreichend Vorräte für unsere Kinder einkaufen können. Denn natürlich hat eine Wohngruppe einen ganz anderen Bedarf an Nudeln und Klopapier als ein normaler Haushalt. Diese Versorgungsknappheit hat gerade die Kinder, die aus Kriegsgebieten kommen, sehr krass getriggert. Auch die Angst, dass Bezugspersonen krank werden oder sterben könnten, hat sie sehr beschäftigt. Da hätten wir uns von der Regierung gewünscht, dass es eine Notfallversorgung mit Mehl und Nudeln und Milch gegeben hätte.

"Ich merke bei mir selbst, dass ich mich manchmal seltsam entfremdet von der Gesellschaft fühle. Die Arbeit macht einen zur Zeit einsam."

Wie ich durchhalte? Manchmal frage ich mich das auch. Ich weiß, wenn meine Kollegen und ich ausfallen, dann geht es den Kindern schlechter. Ich lege sehr viel Herz in meinen Beruf und ich habe die Grundhaltung, mein Bestes zu geben. Ich möchte die Kinder und Jugendlichen dabei unterstützen, möglichst gut durchs Leben zu kommen. Es ist unsere Aufgabe, uns um die Kinder und Jugendlichen zu kümmern. Sie haben keine Familien, in denen sie leben können oder diese Familien sind beispielsweise schon verstorben. Ich habe das Gefühl, dass für unsere Arbeit die vierte Welle brisant wie nie ist, da dieses Mal die Schulen und Kinder extrem davon betroffen sind.

Wir dürfen die Kinder nicht zum Impfen schicken, weil das die Fürsorgeperson zu entscheiden und organisieren hat. Das sind gesetzliche Vertreter, Eltern oder auch Anwälte, die die Vormundschaft übernommen haben. Das ist manchmal für uns sehr, sehr schwierig, weil wir auch Eltern haben, die nicht so gut ansprechbar sind. Es kann sich bis zu Wochen oder Monaten hinziehen, bis die Vormünder oder die Eltern reagieren.

Bildnummer: 59817203 Datum: 05.12.2009 Copyright: imago/epd
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Ich fühle mich psychisch sehr belastet. Ich arbeite in einem Job, in dem man sowieso mit einem ziemlich heftigen Arbeitspensum zu kämpfen hat: Im Schichtdienst zu arbeiten bedeutet auch, dass du einfach mal 24 Stunden Dienst durchhalten musst. Wenn es viele Krankheitssituationen gibt, dann arbeite ich schon mal 60 bis 80 Stunden in der Woche oder mehrere Tage durch und habe gar nicht frei – das ist die normale Belastung.

Dieser Zustand, den wir eigentlich schon seit den Sommerferien erleben, zehrt sehr. Manchmal, wenn ich spät abends von der Arbeit nach Hause komme, sitze ich noch etwas draußen und frage mich, wie das alles weitergehen soll.

Wir stehen vor der Herausforderung, dass wir mit einem großen Fachkräftemangel zu kämpfen haben und die Situation noch mal angespannter ist, weil wir durch Infektionen oder Quarantäne zusätzliche Personalausfälle haben. Da wir im Schichtdienst arbeiten, bedeutet jeder Ausfall, dass die Dienste übernommen werden müssen. Bei uns ist es ähnlich wie in der Pflege: Viele Kollegen haben wegen dieser großen Belastung und der sehr schwierigen Situation den Job verlassen.

Ich merke bei mir selbst, dass ich mich manchmal seltsam entfremdet von der Gesellschaft fühle. Die Arbeit macht mich zur Zeit einsam. Und es geht nicht nur mir so, sondern das betrifft Fachkräfte in meinem Bereich immer mehr. Es gibt wenig Angebote für Mitarbeiter, über die Ängste zu sprechen. Im Alltag gibt es wenig Zeit für persönlichere Gespräche. Aber wir bemühen uns trotzdem, uns die Arbeit gegenseitig irgendwie zu erleichtern. Kleine Gesten, wie einem Kollegen einen Kaffee zu bringen oder eine Schokolade ins Fach zu legen, bedeuten dann schon viel.

Protokoll von Julia Jannaschk

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