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Corona-Virus: Ende der Pandemie? Epidemiologe erklärt, wie es jetzt weitergeht

ARCHIV - 22.07.2022, Baden-W
Wer noch immer regelmäßig Corona-Schnelltests durchführt, verhält sich verantwortungsvoll.Bild: dpa / Bernd Weißbrod
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Das Ende der Corona-Pandemie? Epidemiologe erklärt künftige Szenarien

10.11.2022, 09:24
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Keine Maskenpflicht mehr, außer im öffentlichen Nahverkehr, kaum oder keine Beschränkungen für Veranstaltungen oder Reisen und der letzte Corona-Test ist auch schon eine Weile her: Die Pandemie scheint vorbei, zumindest gefühlt – wohl auch für Thomas Mertens, Virologe und Chef der Ständigen Impfkommission (Stiko).

Denn Mertens rief Ende Oktober in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk (BR) den endemischen Zustand und damit das Ende der Pandemie aus. Letztlich tat er damit, was andere schon einforderten, wie der Virologe Klaus Stöhr auf Twitter:

In der BR-Podcast-Reihe "IQ - Wissenschaft und Forschung" sagte Mertens: "Natürlich könnte man sagen, es handelt sich mittlerweile um eine endemische Virusinfektion und die wird uns erhalten bleiben über die Generationen." Unterstützt wird der Stiko-Chef in seiner Einschätzung beispielsweise vom Virologen Bernd Salzberger vom Uniklinikum Regensburg. Er äußerte sich ebenfalls im Podcast: "Für mich sind diese hohen und kurzen Wellen im Sommer und Herbst auch Ausdruck des Übergangs in eine endemische Phase."

Selbst der vorsichtige Mahner Karl Lauterbach sprach in der Talkrunde Anfang November bei Markus Lanz, in seinem wahrscheinlich ersten Corona-freien öffentlichen Gespräch seit fast drei Jahren, mehr über die Legalisierung von Cannabis, als über das Virus.

Bundesregierung vertritt Position der WHO

Die Bundesregierung bleibt aber weiterhin bei ihrer Einschätzung, die sich auf die Position der Weltgesundheitsorganisation (WHO) stützt. "Der Corona-Ausbruch wurde 2020 von der WHO zur Pandemie ausgerufen und ausschließlich die WHO kann dies auch wieder revidieren", sagte eine Sprecherin des Bundesgesundheitsministeriums gegenüber der ARD. Die Weltgesundheitsorganisation hatte erst Mitte Oktober den weltweiten Gesundheitsnotstand verlängert.

"Der Erreger ist da, und wir müssen mit ihm klarkommen."

Watson hat den Epidemiologen Timo Ulrichs um eine Einschätzung gebeten, in welcher Phase der Infektionsentwicklung wir uns gerade befinden.

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Timo Ulrichs ist Professor für Internationale Not- und Katastrophenhilfe an der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften.Bild: images / teutopress GmbH

Ob endemisch oder nicht, für den Infektionsepidemiologen ist klar: "Der Erreger ist da, und wir müssen mit ihm klarkommen." Doch wo genau sieht er den Unterschied zwischen dem endemischen Zustand und einer pandemischen Lage?

"Eine Endemie bezeichnet eine lokale Präsenz eines Erregers mit Krankheitsfällen, saisonal gehäuft oder dauerhaft, aber ohne die Möglichkeit, große Wellen und eine globale Ausbreitung zu verursachen", definiert Ulrichs auf Nachfrage von watson.

Im Umkehrschluss bedeutet das aber nicht, dass es bei einer Endemie keine schweren Fälle mit Hospitalisierung oder gar Todesfolge mehr geben wird. Auch würden saisonal gehäuft, wie bei einer Grippewelle, verstärkt Arbeitskräfte ausfallen und fehlen – auch in der kritischen Infrastruktur wie in Krankenhäusern.

Auch in Zukunft Risikogruppen schützen

In einer Art "neuen Normalität" im Rahmen einer Endemie sieht Ulrichs Deutschland aber noch nicht angekommen. "Dafür ist es leider noch zu früh. Aber wir sollten uns daran gewöhnen, mit dem Coronavirus zu leben und Vorkehrungen zu treffen, dass auch in Zukunft Risikogruppen bestmöglich geschützt sind."

Als Mittel hierzu empfiehlt er Auffrischungsimpfungen, vor allem für Risikogruppen. Vor allem, um möglicherweise künftig auch im Winter auf Maßnahmen wie Maske tragen, häufiges Testen, oder flächendeckende Booster-Impfungen verzichten zu können. "Aber in dieser Saison leider noch nicht – im Gegenteil, wir sollten schleunigst das Maskentragen in Innenräumen wieder einführen", betont Ulrichs gegenüber watson.

Maske wieder auf – zumindest in Innenräumen und am besten schnell, wenn es nach dem Epidemiologen Timo Ulrichs geht.
Maske wieder auf – zumindest in Innenräumen und am besten schnell, wenn es nach dem Epidemiologen Timo Ulrichs geht. bild: pexels/Anna Shvets

Endemie bedeutet mehr Eigenverantwortung

Für den Virologen Mertens ist der Übergang in einen endemischen Zustand ebenfalls kein Freibrief, alle Maßnahmen und Bedenken fallen zu lassen. Auch er hält es für sinnvoll, in Innenräumen weiter eine Maske zu tragen. Denn dass Masken vor Ansteckung schützen, daran bestehe mittlerweile überhaupt kein Zweifel mehr.

"Also ziehen wir uns zurück auf das eigentliche Ziel und das muss auch künftig sein, schwere Erkrankungen zu vermeiden."

Mertens sagte: "Aber das ist unabhängig von der Pflicht. Das können die Menschen auch in ihrer eigenen, selbstverantwortlichen Entscheidung machen." Im kommenden Winter sei wichtig, dass alle Menschen über 60 und mit besonderen Risiken und Vorerkrankungen flächendeckend geimpft sind.

In puncto Impfung deckt Ulrichs Haltung sich mit der von Mertens, der es nicht für sinnvoll hält, die ganze Bevölkerung alle sechs Monate zu einer Auffrischungsimpfung aufzurufen. "Weil wir mittlerweile wissen, dass die Impfstoffe zwar sehr gut vor schwerer Erkrankung schützen, aber sehr viel weniger gut vor Infektion", sagte er im BR-Podcast. "Also ziehen wir uns zurück auf das eigentliche Ziel und das muss auch künftig sein, schwere Erkrankungen zu vermeiden."

Für Herdenimmunität auch Kleinkinder impfen

Ulrichs hält eine Grundimmunisierung der gesamten Bevölkerung für sinnvoll, um eine Herdenimmunität zu erreichen. Allerdings müssten Menschen ohne Vorerkrankungen seiner Ansicht nach nicht jährlich aufgefrischt werden.

Der Epidemiologe ist dafür, auch die Kleinkinder zwischen sechs Monaten und fünf Jahren zu impfen, wie es die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) empfiehlt.

"Die Risiken sind hoch und steigen, viele Faktoren begünstigen den Übertritt von Erregern mit Pandemiepotential aus dem Tierreservoir auf den Menschen."

Die Stiko wird möglicherweise in diesem Punkt eine andere Haltung einnehmen. "Die Stiko empfiehlt Kindern mit Vorerkrankungen im Alter von sechs Monaten bis vier Jahren bei erhöhtem Risiko für einen schweren Verlauf von Covid eine Grundimmunisierung", schreiben die Experten der Impfkommission laut Funke Mediengruppe in einem Entschlussentwurf. Die endgültige Empfehlung der Stiko wird nächste Woche erwartet.

Eine neue Pandemie oder ein Rückfall – wie wahrscheinlich ist das?

Abgesehen von der Debatte darüber, in welchen Zustand wir uns gerade befinden: Es könnte es durchaus auch andersherum sein, dass wir vom endemischen Zustand wieder zurück in eine Pandemie fallen. Beispielsweise durch neue Virusvarianten.

Ulrichs meint dazu sogar: "Jederzeit, diese Gefahr ist leider noch nicht vorüber. Und das Risiko ist durchaus gegeben, weil wir das Virus in anderen Weltgegenden quasi ungehindert zirkulieren lassen." Man müsse auch dort für eine gute Durchimpfung sorgen, um diese Gefahr in Schach zu halten.

"Nicht auszudenken, was passierte, wenn das Vogelgrippevirus lernte, von Mensch zu Mensch übertragen zu werden."
Timo Ulrichszu watson

Auf die Frage nach einem erneuten Pandemie-Szenario in den nächsten Jahren gibt der Epidemiologe eine ernüchternde Antwort: "Das könnte durchaus passieren. Die Risiken sind hoch und steigen, viele Faktoren begünstigen den Übertritt von Erregern mit Pandemiepotential aus dem Tierreservoir auf den Menschen."

Ulrichs nennt vor allem die Vernichtung der Lebensräume vieler Tiere und die daraus folgende Nähe zum menschlichen Lebensraum als Risikofaktor, aber auch den Klimawandel. "Nicht auszudenken, was passierte, wenn das Vogelgrippevirus lernte, von Mensch zu Mensch übertragen zu werden." Diese ist in Südostasien, zumindest zurzeit, endemisch.

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