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Autor Michael Nast: Warum die Liebe nicht existiert

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Bild: steffen jähnicke
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Warum die Liebe nicht existiert

Es gibt diese Wahrheiten, an die wir uns immer mal wieder erinnern müssen, obwohl sie uns eigentlich klar sein sollten. Eine dieser Wahrheiten wurde mir kürzlich wieder bewusst. Ich verstand, dass die Liebe nicht existiert.
16.12.2018, 18:0117.12.2018, 17:52
michael nast
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"Puh", werden jetzt einige mit hochgezogener Augenbraue einwenden, "kühne These, lieber Michael." Warten wir ab.

Ich bin ja auch so einer einer. Ich idealisiere zu sehr, wenn ich mir die Frau vorstelle, mit der ich mein Leben teilen will – genauso wie die Beziehung mit ihr. Meine Erwartungen an die Liebe sind hoch. Ich bin auf der Suche nach Intensität, gewissermaßen dem Ideal von Romeo und Julia – ohne den schnellen Tod natürlich. In meiner Vorstellung werden wir zu den Hauptfiguren einer romantischen Komödie, deren Drehbuch nur für uns geschrieben worden ist. Wir müssen uns nur noch fallen lassen, in ein verdichtetes Leben, das trotz aller Hindernisse und dramatischer Wendungen auf ein Happy End zusteuert. Praktisch ein Leben am Rande des Herzinfarkts, wir müssen nur aufpassen, dass der Blutdruck stabil bleibt und wir bis zum Happy End überleben.

Vor einigen Wochen ist mir genau das passiert.

Ich befand mich auf einer Party in der Wohnung eines Bekannten. Als ich aus dem Wohnzimmer in den Flur trat, um in die Küche zu gehen, stand plötzlich eine Unbekannte vor mir. Ihr Haar war aus irgendeinem Grund voller Konfetti. Unsere Blicke trafen sich, wir mussten unvermittelt lächeln. Da war plötzlich dieser Zauber, der eine zufällige Begegnung mit so viel Bedeutung auflädt, dass sie als Schicksal empfunden wird. Es war wie im Film, was vielleicht auch am Alkohol lag. Wir unterhielten uns, als wären die anderen Gäste gar nicht vorhanden. Ich stand einem Menschen gegenüber, durch den das Alltägliche zu strahlen begann.

Michael Nast
... ist deutscher Schriftsteller und Kolumnist. Er lebt derzeit in Berlin. Den Durchbruch schaffte er mit "Generation Beziehungsunfähig", das sich über 46 Wochen in der Spiegel-Bestsellerliste hielt. Sein aktuelles Buch #Egoland erschien im April 2018.

Ich erfuhr, warum ihr Haar voller Konfetti war. Kurz darauf erfuhr ich allerdings noch etwas wesentlich Relevanteres. Als ich ihr sagte, dass sie die coolste Frau auf dieser Party wäre, sagte sie: "Tut mir leid, aber ich bin seit einem Monat in einer Beziehung."

"Seit einem Monat? Zählt nicht. Das könnt ihr unter Schicksal abbuchen", sagte Stephan, als ich Lukas und ihm einige Tage darauf euphorisch von der Frau erzählte.

"Ja", rief ich. "Das ist Liebe! Ich werde um sie kämpfen."

"Moment", unterbrach uns Lukas, "bevor wir hier von Schicksal und Liebe reden, überleg dir bitte ganz genau, was du von der Frau willst. Sieh dir doch dein Liebesleben der letzten Jahre an. Das bestand im Grunde genommen nur aus der Aneinanderreihung einmonatiger Liebschaften. Am Anfang bist du immer total euphorisch, und dann verlierst du schnell das Interesse. Hast du dich mal gefragt, warum das so ist?"

"Es hat eben nicht gepasst“, rief ich wie ein bockiges Kind. "Weil der Mensch hinter dem Idealbild, das du von der Frau entworfen hast, sichtbar geworden ist", sagte Lukas. "Das empfindest du dann als Fehler, und entfernst dich von ihr."

"Aber so geht’s doch vielen", sagte Stephan. "Das idealisierte Denken all dieser Kinofilme produziert Menschen, die eigentlich gar keine Beziehung wollen. Die meisten wünschen sich eine ewige Verliebtheitsphase – und halten das für Liebe. Doch sobald der Rausch beginnt, sich im Alltäglichen aufzulösen, verlieren sie das Interesse."

Ich schwieg, sah die beiden an und plötzlich passierte es. Ich begriff, dass die Liebe nicht existiert.

Die meisten Menschen nehmen an, dass einem Liebe – genauso wie die Verliebtheit – einfach passiert. Wir sind auf der Suche nach einem Menschen, der sie bei uns auslöst. Mir geht es ja genau so. Ich warte darauf, dass mich die Liebe wie ein Schlag trifft. Wir begegnen einem Menschen, es funkt, und schon ist die Liebe da. Wenn einem die Liebe passiert, muss man nichts dafür tun – das ist das große Missverständnis.

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Denn zu lieben ist etwas Aktives. Wer Liebe als Substantiv versteht, macht einen Denkfehler. Liebe muss man als Verb verstehen. Liebe ist Handeln, eine Tätigkeit, die gepflegt und kultiviert werden muss. Zu lieben ist Arbeit und Wollen und Ausdauer. Sie verwirklicht sich in der Dauer, sie entfaltet sich in der Zeit. Es ist wie bei einem einem Kunstwerk. Es braucht Zeit und Hingabe, um etwas besonders Schönes herzustellen. Verliebtheit ist der Auslöser, aber Liebe verwirklicht und entfaltet sich in der Dauer.

Manchmal stelle ich mir vor, Romeo und Julia wären nicht gestorben, und ihre großen Gefühle wären dem Alltag ausgesetzt worden. Die großen Gefühle hätten wahrscheinlich gar nicht so lange überlebt. Die beiden haben keine Liebe empfunden, sondern eine starke Verliebtheit. Sie brannte leuchtend, bis sie starben. Nur durch den schnellen Tod, durch die Verdichtung ihrer intensiven Verliebtheit auf einen sehr begrenzten Zeitraum, wurden sie zu einem der größten Liebespaare aller Zeiten. Aber eigentlich haben sie sich nie kennen gelernt. Sie hatten gar nicht die Chance, den Menschen hinter der Projektion wahrzunehmen. Sie hatten nie die Chance, Freunde zu werden.

Ich dachte noch einmal an die Frau mit dem Konfetti im Haar.

 An diesen Zauber, den ich spürte, der aus unserer Begegnung ein Ereignis machte, das in ein Leben strahlt. Genau das war mein großer Denkfehler. Ich kannte diese Frau nicht, wusste nichts über sie und sie nichts über mich. Ob dieser Abend mich nachhaltig inspirieren würde, ob ich sogar bereit war, mein Leben neu dafür auszurichten, kurz: ob daraus Liebe entstehen könnte, konnte ein solcher Moment niemals zeigen.

Was mir passiert war, war eine spontane Verliebtheit – keine Liebe. Ein großes Missverständnis unserer Zeit. Liebe ist nicht die Voraussetzung für eine gelingende Beziehung, sie ist das Ergebnis einer gelungenen Beziehung. Wer das verinnerlicht hat, dem stehen alle Türen offen.

Der erste Teil der Kolumne von Michael Nast: 

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