Leben
Meinung

Drei verlorene Semester: Regierung muss bei Studenten Wiedergutmachung leisten

Viele Studenten saßen in den letzten drei Semestern genervt und frustriert vor dem Laptop. (Symbolbild)
Viele Studenten saßen in den letzten drei Semestern genervt und frustriert vor dem Laptop. (Symbolbild)Bild: Digital Vision / Solskin
Meinung

Drei verlorene Semester: Regierung muss bei Studenten Wiedergutmachung leisten

16.07.2021, 15:17
Mehr «Leben»

Vergangene Woche ist etwas passiert, das es für mich seit drei Semestern nicht mehr gab: Ich habe seit Beginn der Corona-Pandemie meine erste Präsentation im Hörsaal gehalten – vor anwesenden Mitstudierenden. Ich konnte spüren, dass mir die Leute zuhören und Blickkontakt halten. Während der Präsentation wurden Fragen gestellt, danach hat sich sogar eine lebhafte Diskussion entwickelt. Mir ist klar geworden, wie sehr ich den Präsenzunterricht vermisst habe.

Gleichzeitig ist mir aufgefallen, wie nutzlos wir in diesen Pandemie-Semestern eigentlich vor uns hinstudiert hatten. Laut einer Studie der Frankfurter Goethe-Universität ist der Lerneffekt beim Homeschooling etwa so hoch wie in den Sommerferien. Er geht also gegen null. Für die Studierenden dürfte das ähnlich sein. Der Unterschied ist, dass wir uns seit eineinhalb Jahren im Zoom-Limbus befinden. Die Studierenden in Deutschland haben drei Semester verloren und die bekommen sie nie wieder zurück.

"Nach dem Unterricht hat man den Laptop zugeklappt und die Sache war vergessen."

Das Uni-Leben fängt langsam wieder an zu existieren. Ich merke, was mir gefehlt hat. Beim Präsenzunterricht sind die Studierenden aufmerksamer. Sie erinnern sich an die Inhalte der Vorlesung. Man muss sich nicht mehr acht Stunden am Tag zurückhalten, nicht durch Instagram zu scrollen, während einen die müden Augen der Mitstudierenden aus dem Bildschirm heraus anstarren und der Prof einen ununterbrochenen Monolog hält.

Im Gegenteil: Man hört einander jetzt aufmerksam zu, die Anwesenden nicken und diskutieren. Und auch der Prof muss keine unangenehme Stille ertragen, wenn er fragt, ob noch jemand etwas hinzuzufügen hat.

Kürzlich hatten wir eine Gastdozentin zu Besuch. Sie hat uns über ihre Arbeit und ihren Karriereweg berichtet. Das wäre zwar auch digital spannend gewesen. Doch nach dem Unterricht hätte man den Laptop zugeklappt und die Sache vergessen.

Ohne engagierte Lehrende wäre der Fernunterricht nicht möglich gewesen

Da wir uns für die Vorlesung aber an der Uni getroffen haben, gab es danach die Möglichkeit, sich persönlich mit der Vortragenden zu unterhalten. Dabei wurden die Kontaktdaten ausgetauscht und man hat sich "ganz bald" auf ein Bier verabredet – so knüpft man wertvolle Kontakte.

Nicht nur für die Studierenden ist der Präsenzunterricht eine Erlösung. Viele Lehrende werden es kennen: Alle Studierenden haben ihre Laptop-Kamera ausgeschaltet, man hält seinen Vortrag in der Videokonferenz-Software für einen Bildschirm voller schwarzer Kacheln. Ich habe mit den Lehrkräften mitgefühlt. Oft habe ich als einer der wenigen meine Kamera angelassen, was irgendwie eine unangenehme Situation ist. Hoffentlich eine, die in Zukunft nicht mehr auftritt. Seit dem Präsenzunterricht blühen auch die Lehrenden wieder auf.

"Den Studierenden wurde durch die Lockerungen der Corona-Maßnahmen etwas ganz Wichtiges zurückgegeben: eine Perspektive."

An dieser Stelle muss man den Lehrkräften danken, die sich Mühe gegeben haben, drei Semester Fernunterricht produktiv zu gestalten. Gerade denjenigen, die keine Angst davor hatten, etwas Neues auszuprobieren und Abwechslung in den Zoom-Alltag zu bringen. Auch wenn das manchmal nicht geklappt hat – wir wussten es erst, nachdem wir es ausprobiert haben.

Den Studierenden wurde durch die Lockerungen der Corona-Maßnahmen etwas ganz Wichtiges zurückgegeben: eine Perspektive. Die Aussicht darauf, dass es langsam besser wird und der digitale Unterricht doch nicht die neue Normalität ist.

Die Anzahl der Depressionen bei jungen Menschen hat sich verdoppelt

Die Stimmung kann aber nur deswegen so steigen, weil sie davor einen Tiefpunkt erreicht hat. Während der Pandemie ist besonders an den Universitäten und für die jungen Menschen einiges kaputtgegangen – vieles davon lässt sich nur schwer, wenn überhaupt, reparieren.

Die Zahl der jungen Menschen, die unter Depressionen oder Angstzuständen leiden, hat sich während der Pandemie in Deutschland verdoppelt. In meinem Freundeskreis nehmen immer mehr Menschen psychologische Beratung in Anspruch. Gleichzeitig bedeutet das: Man muss oft monatelang auf einen Therapieplatz warten.

Ein Mitstudierender hat im Oktober nach Hilfe gesucht, konnte seine Therapie aber erst im Juni beginnen. Man muss sich vorstellen, man hat Zahnschmerzen und der nächste freie Termin beim Zahnarzt ist in acht Monaten. Der Unterschied: Zahnschmerzen sind seltener potenziell lebensbedrohlich als psychische Leiden.

"40 Prozent der Studierenden haben durch die Corona-Krise ihren Job verloren – das sind rund 1,1 Millionen Menschen."

Positiv ist zumindest, dass man psychischen Leiden Aufmerksamkeit schenkt und Therapien normalisiert.

Zur psychischen Belastung trägt auch die schwierige Berufssituation bei: 40 Prozent der Studierenden haben durch die Corona-Krise ihren Job verloren – das sind rund 1,1 Millionen Menschen. Vor allem die klassischen Studierendenjobs, wie Kellnern im Restaurant, waren durch den Lockdown nicht mehr möglich.

Und das spiegelt sich auch in der Lebenssituation vieler Studierender wider: Ein Drittel der Studierenden haben aufgrund ihrer aktuellen finanziellen Situation sehr große Sorgen. Die Antwort der Bundesregierung darauf: ein zinsfreies Darlehen über 650 Euro. Das ist gut gemeint, aber in Universitätsstädten wie München oder Berlin bezahlt man damit gerade mal eine Monatsmiete für das eigene WG-Zimmer.

Während der Corona-Pandemie waren Praktika eine Rarität

Somit mussten viele junge Menschen wieder bei den Eltern einziehen und viele damit die neuerworbene Selbstständigkeit wieder aufgeben. Im schlimmsten Fall führte es zum Studienabbruch.

Aber selbst, wenn die Ausbildung fortgesetzt wird, werden sich die Corona-Semester bemerkbar machen. Durch die Arbeitsmarktsituation war es für viele Studierende schwer, ein Praktikum zu finden. Viele Arbeitgeber setzen allerdings zumindest ein Praktikum als Arbeitserfahrung voraus – doch die Corona-Pandemie hinterlässt bei vielen eine Lücke im Lebenslauf.

Im Rahmen des Jugend-Dialogs im Mai bedankte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel bei den jungen Menschen für ihre Solidarität in der Krise. Sie mahnte, "die Bedürfnisse von jungen Leuten, von Kindern, nicht zu vergessen, sondern im Mittelpunkt zu behalten".

"Die Sorgen und Ängste der Studierenden wurden in der Corona-Pandemie konsequent ignoriert."

Der Punkt ist aber: Etwas im Mittelpunkt behalten funktioniert nur dann, wenn es sich überhaupt jemals im Mittelpunkt befunden hat. Die Sorgen und Ängste der Studierenden wurden aber in der Corona-Pandemie konsequent ignoriert. Es gab keine Strategien für Lockerungen oder Pläne für den Präsenzunterricht. Der Dank der Bundeskanzlerin ist ein Trostpflaster – macht aber nichts ungeschehen.

Jetzt, da der universitäre Betrieb wieder auflebt, gibt es die Chance, das Versäumte nachzuholen. Einen Blick auf die junge Generation zu wagen und sie zu verstehen. Nicht nur über, sondern mit den jungen Menschen reden – das gilt sowohl für Schüler und Schülerinnen als auch für Studierende.

Jetzt kann die Regierung zeigen, was sie aus der Krise gelernt hat

Man könnte jetzt aktiv die Entwicklung der Studierenden fördern, Sommerkurse anbieten, Auslandsreisen nachholen, die finanzielle Unterstützung aufstocken, Universitäten zum Präsenzunterricht aufrufen, neue Lernformen entwickeln – die Liste der Möglichkeiten ist lang. Aber wenn ich aus den letzten eineinhalb Jahren Bilanz ziehe, dann bin ich wenig optimistisch.

Wünschenswert wäre, wenigstens die Dinge zu behalten, die sich in der Pandemie bewährt haben, zum Beispiel das mobile Studieren. Die Möglichkeit, unter der Woche aufs Land zu fahren oder die Eltern zu besuchen und trotzdem in der Vorlesung anwesend zu sein, ist komfortabel. Und offenbar funktioniert es. So können sich auch Menschen, denen eine Wohnung in der Stadt zu teuer ist, ohne Barriere weiterbilden. Damit könnte für mehr Chancengleichheit und sozialen Aufstieg gesorgt werden – eine gute Sache also.

"Die Chance, aus der Pandemie mit einer guten Note zu kommen, haben die Regierenden – trotz zahlloser Chancen in den vergangenen drei Semestern – leider vertan."

In die digitale Ausstattung der Hochschulen sollte grundsätzlich mehr investiert werden. Wenn Massenvorlesungen ohne Zwischenfragen der Studierenden über Zoom möglich sind, dann könnte man sie doch auch direkt auf Video aufzeichnen. Die Fernuni Hagen – die Uni mit den meisten Immatrikulationen in Deutschland – zeichnet alle Vorlesungen auf und stellt sie für die Studierenden jederzeit abrufbereit zur Verfügung. Solche Konzepte fehlen an vielen deutschen Hochschulen weiterhin.

Die Studierenden könnten dann in Eigeninitiative lernen – so wie sie es die letzten drei Semester getan haben – und die Ressourcen der Universitäten konzentrieren sich mehr auf die Praxisarbeit. Das würde die Qualität von Übungen, Seminaren, Kolloquien und Exkursionen verbessern.

Wenn die Universitäten und die regierenden Politiker es schaffen, wenigstens die Gewinne der Krise zu nutzen und auszubauen, dann ist das Mindestmaß an politischer Weitsicht erfüllt. Wenn sich von nun an wirklich um die Probleme der Studierenden gekümmert wird, dann gibt das Extrapunkte. Fest steht aber auch: Die Chance, aus der Pandemie mit einer guten Note zu kommen, haben die Regierenden – trotz zahlloser Chancen in den vergangenen drei Semestern – leider vertan.

Warnung vor gefährlichen Erregern: Basteln zu Ostern besser ohne Eierkartons

Basteln ist ein schöner Zeitvertreib über die freien Ostertage. Passend dazu sind Eierkartons beliebte Utensilien, um beispielsweise kleine Hühner, Häschen oder Blumen zu kreieren. Schicke Osternester lassen sich ebenfalls aus alten Eierschachteln zaubern.

Zur Story