Wenn ein Jugendlicher in Deutschland stirbt, dann meist nicht durch Krebs oder einen brutalen Überfall, sondern die eigene Hand. Suizid ist eine der häufigsten Todesursachen im Jugendalter.
Dennoch wird das Thema in Klassenzimmern, wo im Schnitt ein Mensch mit Suizidgedanken sitzt, kaum besprochen. Das muss sich ändern, findet der "StadtschülerInnenrat Frankfurt am Main" und fordert, dass mentale Gesundheit – der beste Schutz vor Selbsttötungen – im Lehrplan verankert wird.
"Obwohl es in Deutschland im Jahr mehr Suizidtote als Verkehrstote gibt, werden Verkehrsregeln ausführlich im Unterricht behandelt – mentale Gesundheit hingegen gar nicht", erklären sie dazu und starteten eine Petition, die anlässlich des 10. Septembers, dem Weltsuizidpräventionstag, dem hessischen Kultusminister überreicht werden soll. Darin fordern sie:
Harrison Krampe ist stellvertretender Stadtschulsprecher in Frankfurt am Main und Mit-Initiator der Petition. "Sie entstand beim 2. Frankfurter Schul-Suizidpräventionstag und die Veranstaltung war komplett ausgebucht", berichtet er im Gespräch mit watson. "Das Bedürfnis der Schüler und Schülerinnen über das Thema zu sprechen, ist absolut bemerkbar. Corona hat das weiter verstärkt."
Mitschüler berichten zunehmend von psychischen Belastungen und suchen Hilfe, erzählt er. Das hätte eine Dimension erreicht, "bei der wir das Gefühl hatten, wir müssen jetzt politisch aktiv werden." Es wäre schöner gewesen, hätten Politik und Schulwesen das Problem schon längst aufgegriffen, "aber nun müssen wir es eben tun", sagt Harrison.
Unterstützt werden sie von der Puhl Foundation, einer Stiftung, die sich für Früherkennung und Hilfe in Bezug auf psychische Erkrankungen einsetzt. Mitgründerin Alix Puhl hat ihren Sohn Emil im Alter von 16 Jahren an Suizid verloren.
"Er fehlt uns jeden Tag", sagt sie gegenüber watson. Seit dem Verlust von Emil im Jahr 2020 wandten sich immer mehr Suizid-Hinterbliebene – Eltern, Jugendliche und auch Lehrkräfte – mit ihren Geschichten an sie.
Sie sagt:
Besonders Jugendliche teilen ihr Innenleben eher mit Gleichaltrigen oder im Internet. "In sozialen Netzwerken, Games und Foren herrscht Verantwortungsdiffusion. Keiner reagiert, weil alle denken, der andere wird schon etwas tun", sagt Alix Puhl.
Im Freundeskreis herrsche oft Überforderung und falsch verstandene Solidarität. "Es ist wichtig, den Jugendlichen zu kommunizieren, dass dieses Thema zu groß ist, um ein Geheimnis zu sein. Und auch zu groß, als dass der beste Freund es lösen kann, das wäre eine unerträgliche Last. Wir müssen ihnen klare Anlaufstellen bieten, die übernehmen." Und zwar da, wo der Großteil ihres Tages passiert: in der Schule.
Harrison Krampe bestätigt, dass dies momentan noch zu wenig passiere: "Oft ist es eher so, dass ein Suizid oder ein Suizidversuch an der Schule nicht publik gemacht werden soll, aus Angst, die Schule könnte einen Imageschaden erleiden." Doch diese Tabuisierung mache die Situation schlimmer.
Krampe führt aus:
Suizid kommt nicht aus dem Nichts, sondern ist in 90 Prozent der Fälle eine Folge psychischer Erkrankungen, wie zum Beispiel Depression, Angststörungen, Autismus, Essstörung oder Borderline. Therapeuten und Ärztinnen können Betroffenen helfen, mit diesen Erkrankungen umzugehen, wenn sie selbst oder ihr Umfeld das Problem erkennen, je frühzeitiger, desto besser.
Dafür müssten Lehrer schon in der Ausbildung in der Früherkennung psychischer Erkrankungen und damit in Suizidprävention geschult werden, denn "oft fehlt ihnen die Handlungskompetenz darüber, wie man eine psychische Erkrankung erkennt und damit umgeht", findet Harrison.
Das Ergebnis?
Sie handeln nicht.
"Dieses Nicht-Handeln ist genau das, was wir aufheben wollen."
Viele Lehrkräfte seien mit den Themen seelische Erkrankungen und Suizidalität überfordert, da dies nicht Teil ihrer Ausbildung sei, beobachtet Alix Puhl: "Alle Beteiligten haben natürlich Angst, etwas falsch zu machen. Dagegen kann Aufklärung helfen." Sie habe Lehrer erlebt, die zwar einen Verdacht hatten, aber fürchteten: "Ich kann doch nicht mit dem Jungen über Selbsttötung sprechen! Dann bringe ich ihn doch erst auf die Idee" – ein Irrglaube, meint Alix Puhl. "Schweigen ist keine Suizidprävention."
Auch der Satz "Wer davon spricht, sich umzubringen, tut es nicht" sei ein Mythos. "Es gibt Forschung, die das widerlegt. In 90 Prozent der Fälle wurde der Todeswunsch ganz konkret ausgesprochen", erklärt Alix Puhl. Suizid sei kein Thema, das nur Randschichten und Sonderlinge beträfe.
Sie sagt:
Alix Puhl befürwortet konkrete Hilfestellung in Form von Thementagen, Schulungen und Elternabenden: Welches Verhalten ist noch launische Pubertät und was schon eine psychische Erkrankung? Mit welchen Worten fange ich ein Gespräch um Suizidalität an? Wann muss ich professionelle Hilfe holen?
Jeder, der viel mit Teenagern zu tun hätte, solle dieses Wissen abrufen können, denn, so fasst es Alix Puhl zusammen:
Suizid sei "das schlechteste Ende" eines langen Leidensweges, sagt Alix. Doch häufig kann Lebensmüden geholfen werden, zum Beispiel mit Medikamenten und Therapie, um die zugrunde liegende psychische Erkrankung, die oft Ursache für suizidale Tendenzen ist, erfolgreich zu behandeln.
Gerade deshalb sei Wissen und Aufklärung so wichtig. "Wir wollen, dass das Thema enttabuisiert wird", bekräftigt auch Harrison. Er sagt:
Das Schuljahr hat etwa 190 Schultage. Im Jahr 2020 (aktuellste Zahlen des Statistischen Bundesamts) begangen 180 Kinder und Jugendliche im Alter von 10 bis 20 Jahren Suizid. "Jeden Schultag nimmt sich ein Teenager das Leben", resümiert Alix Puhl. "Das ist einfach zu viel, um so zu tun, als wäre nichts."