Finger weg von Abnehmpille: Tiktok-Trend bringt Teenager ins Krankenhaus
Auf Tiktok-Accounts tauchten dieses Jahr plötzlich immer wieder ähnliche Clips auf: Kühlschränke voller blauer Pillenschachteln, dazu Botschaften wie "Nimm Molecule und vergiss, dass Essen existiert". Das Versprechen: Radikale Gewichtsabnahme ohne Diät oder Sport. Die Pille heißt "Molecule" – und sie wurde zu einem viralen Hype.
Junge Menschen, vor allem Mädchen und Schüler:innen aus Russland, stellten ihre "Abnehm-Reisen" online. Unter Hashtags, die Essstörungen romantisieren, teilten sie angebliche Erfolgsgeschichten. Doch dahinter steckt eine reale Gefahr – und inzwischen auch mehrere Krankenhausaufenthalte.
Russin nimmt Pillen zum Abnehmen und landet im Krankenhaus
Auch die 22-jährige Maria aus St. Petersburg bestellte Molecule bei einem bekannten Online-Händler. Zwei Kapseln am Tag, zwei Wochen lang – dann wurde ihr klar, dass sie die Kontrolle verloren hat. "Ich hatte absolut keine Lust zu essen, geschweige denn zu trinken. Ich war nervös. Ich habe ständig meine Lippen gebissen und meine Wangen gekaut", erzählt sie im Gespräch mit der BBC.
Die Nebenwirkungen seien schlimmer geworden: Panikgefühle, Nervosität, dunkle Gedanken. "Diese Pillen hatten einen starken Einfluss auf meine Psyche", erzählt sie. Als die junge Frau schließlich zu viele nahm, musste sie in ein Krankenhaus eingeliefert werden.
Heute versucht sie online, andere abzuhalten, greift in Foren ein, schreibt Mädchen, die das Mittel bestellen wollen. Einmal hat sie sogar Eltern eines Teenagers kontaktiert, um zu warnen.
Marias Fall ist kein Einzelfall. Laut russischen Medien und der BBC mussten mindestens drei Minderjährige klinisch behandelt werden, nachdem sie Molecule genommen hatten.
Eine Schülerin in der sibirischen Stadt Chita wurde im Frühjahr eingeliefert, weil sie rechtzeitig für den Sommer abnehmen wollte. Die Mutter eines anderen Mädchens berichtete Lokalreporter:innen, ihre Tochter habe nach einer Überdosis auf die Intensivstation gemusst. Ein 13-jähriger Junge aus St. Petersburg erlitt Halluzinationen und Panikattacken; er hatte einen Freund gebeten, ihm die Pillen zu besorgen, weil er wegen seines Gewichts gehänselt wurde.
Online kursieren Berichte über geweitete Pupillen, Schlaflosigkeit, Zittern. Doch die Clips bleiben dem Bericht zufolge dennoch online. Sie sind oft codiert, um Moderation zu umgehen.
"Naturprodukt" der Gen Z? Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall
Die Verpackungen zeigen Begriffe wie Löwenzahnwurzel, Fenchel oder Pflanzenextrakte, dekoriert mit Hologrammstickern. Angeblich ein "natürliches Nahrungsergänzungsmittel".
Tatsächlich enthielten die Pillen in Labortests der russischen Zeitung "Kommersant" einen anderen, gefährlichen Stoff: Sibutramin. Das ist ein Wirkstoff, der in den 1980ern als Antidepressivum entwickelt und später als Appetitzügler eingesetzt wurde. Bis Studien zeigten, dass er das Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall erhöht.
In der EU, den USA, Großbritannien, China und vielen anderen Staaten ist Sibutramin seit Jahren verboten. In Russland ist es verschreibungspflichtig und darf nur Erwachsenen gegeben werden. "Die Selbstmedikation mit diesem Medikament ist sehr unsicher, weil wir nicht wissen, wie viel Wirkstoff in solchen 'Nahrungsergänzungsmitteln' enthalten ist", warnt die St. Petersburger Endokrinologin Ksenia Solowjowa bei der BBC.
Molecule: Billiger als Ozempic – und kaum zu stoppen
Die Pillen kosten umgerechnet teilweise unter zehn Euro für 20 Tage. Das ist nur ein Bruchteil dessen, was legale Abnehmmittel wie Ozempic auf dem russischen Markt kosten. Das macht Molecule attraktiv, trotz des Risikos. Und trotz staatlicher Versuche, den Verkauf zu stoppen.
Online-Marktplätze löschten Listings, doch kurz darauf tauchte das Mittel einfach unter neuem Namen auf: "Atom", mit fast identischer Verpackung. Händler:innen täuschen die Plattformmoderation, indem sie die Pillen als "Sportnahrung" oder "Müsli" listen.
Auch die Herkunft bleibt nebulös. Manche Verkäufer:innen zeigen chinesische Produktionszertifikate, andere behaupten, die Pillen kämen aus Deutschland. Die BBC fand eine vermeintliche Adresse eines deutschen Herstellers, dort existiert kein Unternehmen.
Kasachische Händler:innen erklärten, sie hätten die Ware "aus Lagern von Freunden", ohne genaue Herkunft zu kennen.
Gen Z: Ein Kampf gegen Algorithmen und Selbstzweifel
Wie gefährlich der Trend ist, zeigt sich gerade dort, wo er sich verbreitet: in Online-Communitys, die Essstörungen normalisieren. Die BBC berichtet von Posts, in denen Molecule gezielt an User:innen mit restriktivem Essverhalten beworben wird. Influencerin Anna Enina, die früher selbst illegale Schlankheitspillen nahm, reagierte öffentlich: "Wenn man mit einer Essstörung zu kämpfen hat ... die Folgen werden schrecklich sein. Man wird es zehnfach bereuen."
Doch Warnungen sind leise in einem Feed, der dünne Körper ästhetisiert und Disziplin mit Hungern verwechselt. Der Algorithmus belohnt Vorher-Nachher-Bilder mehr als kritische Stimmen. Für Maria ist jeder neue Tiktok-Clip ein Trigger – Erinnerung an eine Pille, die sie krank gemacht hat und die heute noch Millionen Menschen sehen.
