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Geflüchtete: Schwierige Situation in Unterkünften – Sorge vor Winter wird größer

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Menschen bei ihrer Ankunft in Reinickendorf im März 2022.Bild: www.imago-images.de / imago images
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Der Winter naht, die Sorge wächst: Lage in Unterkünften für Geflüchtete wird schwieriger

03.11.2022, 19:4103.11.2022, 19:42
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Der Zähler der verbleibenden Plätze für Geflüchtete im Ankunftszentrum des Berliner Bezirks Reinickendorf steht am ersten November bereits auf minus hundert. Es ist kein Platz mehr für Neuankömmlinge in den Unterkünften.

Doch täglich kommen neue Menschen an. Der Andrang im Berliner Ankunftszentrum, die erste Anlaufstelle für Menschen auf der Flucht, hat sich im September sprunghaft erhöht: "Die Zahlen von August, mit etwa 850 Personen im Monat, haben sich verdreifacht auf über 2000", sagt Sascha Langenbach, der Sprecher des Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) zu watson.

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Sascha Langenbach ist meist vor Ort im Ankunftszentrum im Einsatz.Bild: imago images
"Wir verbuchen wieder mehr Zugänge aus Syrien, Afghanistan, Irak, Türkei und anderen Ländern."
Sascha Langenbach

Dabei sind die Geflüchteten in Berlin nicht überwiegend Ukrainer:innen, wie noch in den Monaten März bis September.

"Wir verbuchen wieder mehr Zugänge aus Syrien, Afghanistan, Irak, Türkei und anderen Ländern", sagt Langenbach. In den vergangenen Tagen habe man zum Beispiel vermehrt iranische Frauen gezählt, die es irgendwie geschafft haben, ein Visum zu bekommen. Und auch Geflüchtete aus benachbarten Länder der Ukraine wie Moldawien oder Georgien steigen derzeit an. Was hat sich verändert?

Viele Geflüchtete kommen aus Syrien oder Afghanistan

Langenbach führt den neuen Flüchtlingsstrom unter anderem auf die Öffnung einer altbekannten Fluchtroute zurück:

"Wir vermuten, dass das zusammenhängt mit der Grenzöffnung entlang der Balkanroute. Insbesondere Serbien und benachbarte Länder haben im Moment vor dem Hintergrund steigender Energiepreise andere Sorgen, als auch noch 30.000 Menschen in irgendwelchen halbwegs gut funktionierenden Lagern unterzubringen."
"Wir rechnen bis Jahresende mit weiteren 8000 Menschen, die kommen."
Sascha Langenbach

Darum würden die Flüchtlinge, die lange Zeit in Ländern wie der Türkei, Griechenland oder Serbien zurückgehalten wurden, nun weiter nach Zentraleuropa gelassen. Außerdem führe die Bombardierung kritischer Infrastruktur in der Ukraine dazu, dass viele Ukrainer:innen gerade jetzt fliehen.

Das Zentrum in Reinickendorf ist für alle Geflüchteten, außer aus der Ukraine, die erste Anlaufstelle in Berin.
Das Zentrum in Reinickendorf ist für alle Geflüchteten, außer aus der Ukraine, die erste Anlaufstelle in Berin.watson

Nicht nur Berlin hat ein Unterbringungsproblem

Langenbach sieht die bevorstehenden Monate mit "professioneller Sorge". Schon jetzt ist der Ansturm der Geflüchteten in Berlin schwer zu bewältigen. Nicht nur in der Hauptstadt, auch in anderen Städten gibt es nicht genügend Unterbringungsmöglichkeiten für die vielen Menschen auf der Flucht. Doch Langenbach rechnet "bis Jahresende mit weiteren 8000 Menschen, die kommen." Und fügt trocken hinzu: "Wenn es gut geht."

Migrationsforscher Gerald Knaus warnt gegenüber dem Sender Ntv: "Wir sprechen von einer Flüchtlingskrise historischen Ausmaßes. (...) Aber tatsächlich haben bislang schon mehr Menschen in Deutschland Schutz gefunden als im Rekordjahr 2015. Die Krise liegt nicht hinter uns, sie könnte sich nochmal drastisch verschärfen."

Es handelt sich dabei vor allem um eine humanitäre Krise. Viele Geflüchtete stranden erst einmal für Tage, im schlimmsten Fall für Wochen im Ankunftszentrum, bis sie gesundheitlich untersucht und registriert werden und es eine neue Unterkunft für sie gibt.

Einige Geflüchtete warten in Reinickendorf auf das Mittagessen.
Einige Geflüchtete warten in Reinickendorf auf das Mittagessen.Bild: www.imago-images.de / imago images

Geflüchtete sehen keine Zukunftsperspektive im Heimatland

Eine georgische Familie mit zwei kleinen Kindern ist seit fünf Tagen im Ankunftszentrum. Die Mutter erklärt, warum sie aus ihrer Heimat Georgien geflohen sind: "Es gibt keine Arbeit dort." Zuerst gingen sie nach Italien, wo die 22-Jährige Wurzeln mütterlicherseits hat.

Doch ein Leben dort können sie sich nicht vorstellen: "Die politische Situation und das Leben dort ist hässlich", sagt sie auf Italienisch, "brutta". Auch wegen der neuen Präsidentin Giorgia Meloni und der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit im Land. "Meine Kinder können dort nicht einmal zur Schule gehen", sagt sie mit sich überschlagender Stimme.

Ein junger kurdischer Mann dagegen hat die Flucht entlang der Balkanroute mit einem Truck auf sich genommen. In der Türkei werden Kurd:innen, die größte ethnische Minderheit, seit Jahren verfolgt, ihre Kultur unterdrückt. Obwohl der 30-Jährige Sozialarbeit studiert hat, bekam er keinen Job in der Türkei.

"Auf der Flucht haben viele mit dem bezahlt, was sie haben."
Sascha Langenbach über traumatisierte Frauen

"Ich habe dort für mich keine Zukunft gesehen. Als Kurde ist dort alles hart für uns, wir bekommen keine Chance", sagt er uns. Er hat das Glück, dass zwei seiner Brüder schon in Deutschland wohnen und er dort erst einmal unterkommen kann. "Ich erwarte nicht viel. Nur ein normales Leben." Seinen Namen zu nennen oder ein Foto zu machen, traut er sich nicht.

Über die Balkanroute kommen nicht nur verfolgte Kurd:innen und Georgier:innen ins Land. Auch viele afrikanische Frauen erreichen Berlin, die über Libyen geflohen und teilweise schwer traumatisiert sind: "Auf der Flucht haben viele mit dem bezahlt, was sie haben." Mit ihrem Körper.

Auch illegal kommen Flüchtlinge nach Deutschland: In Dresden waren es im August 2022 bereits 3000 Menschen, die über die tschechische Grenze nach Deutschland gelangten. Heike Teggatz, Bundesvorsitzender der Bundespolizeigewerkschaft, geht von einer Dunkelziffer aus, die dreimal so hoch ist.

Die schwierige Suche nach Immobilien

Derzeit kämpft Langenbach, wie die meisten Bundesländer, mit der Beschaffung von geeigneten Gebäuden, in denen er die eine große Zahl an Menschen unterbringen kann. Einfach ist es nicht: "Alle, die in Berlin leben, wissen, wie schwer es ist, schon eine normale Wohnung zu bekommen. Wenn wir sagen, wir hätten gerne etwas für 500 Leute, lacht die Immobilienbranche", sagt der Sprecher des LAF.

In dieser Unterkunft wohnen die Geflüchteten in Reinickendorf.
In dieser Unterkunft wohnen die Geflüchteten in Reinickendorf.bild: watson

Zwar habe er einige Immobilien in Aussicht, wo er kurzfristig Menschen unterbringen könnte. Aber: "Kurzfristig heißt in zwei bis vier Wochen, was unter normalen Umständen gigantisch wäre. Im Moment ist es einfach zu langsam."

Langenbach geht davon aus, dass es demnächst auch wieder nötig werde, Turnhallen und andere Gebäude für die Unterbringung zu nutzen, wie schon 2015. In der bayerischen Kommune Fürstenfeldbruck hat man dafür bereits ein Seniorenheim angemietet. Der dortige Bürgermeister sagt, dass 2015 sogar Tiefgaragen für die Unterbringung von Flüchtlingen geprüft würden. Er sagt dem "ZDF"-Magazin "Frontal": "Davon stehen wir nicht mehr sehr weit entfernt." Dort gibt es noch 260 Plätze in Notunterkünften.

Obwohl in Berlin bereits rückwärts gezählt wird, wenn es um die Zahl der vorhandenen Schlafplätze geht – weggeschickt werde niemand. Aber wohin mit den Menschen ohne Obdach? Langenbach sagt: "Dann rücken wir ein bisschen mehr zusammen."

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Zum 1. April wird der Konsum und Anbau von Cannabis in Deutschland straffrei. Die Bundesregierung hat damit eines ihrer zentralen Wahlversprechen eingelöst. Erwachsene dürfen künftig bis zu drei eigene Hanfpflanzen selbst anbauen und außerdem Cannabis-Social-Clubs beitreten, über die sie Gras beziehen können.

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