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Kita-Erzieherin klagt an: "Die Politiker haben uns schlicht vergessen"

Cute little girl sitting in teacher's lap in kindergarten and reading a story while the other children are playing.
In deutschen Kitas herrscht seit Monaten wieder Regelbetrieb.Bild: E+ / skynesher
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Kita-Erzieherin beobachtet Ärzte-Trend, der Sorgen macht, und klagt: "Die Politiker haben uns schlicht vergessen"

23.09.2020, 11:0223.09.2020, 18:43
Erzieherin melanie
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Seit dieser Woche befinden sich Angestellte des öffentlichen Dienstes in einigen Regionen Deutschlands im Warnstreik. Damit will die Gewerkschaft Verdi 4,8 Prozent mehr Lohn für Mitarbeiter der Verwaltung, Kliniken und Kitas erwirken.

Wie wichtig Erzieher und Krankenhauspersonal für die Gesellschaft sind, haben die vergangenen Monate gezeigt. Die meisten Kita-Arbeiter werden von dem Streik allerdings kaum profitieren, denn nicht einmal 33 Prozent der Kindertagesstätten gehören zu öffentlichen Trägern, wie eine Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt. Die Mehrheit der Erzieher sind demnach Angestellte freier Träger, konfessioneller Einrichtungen oder Elterninitiativen.

Auch Melanie (Name von der Redaktion geändert) wird in diesem Arbeitskampf nicht von der Gewerkschaft vertreten – dabei gibt es so einiges, was ihr momentan im Berufsleben sauer aufstößt. Die Erzieherin aus Berlin ist seit dreißig Jahren im pädagogischen Bereich tätig und erklärt im Protokoll bei watson, warum der Streik ihr aus ihrer Sicht gar nichts nützt – und was jetzt gerade viel wichtiger wäre.

Sie sagt:

"Ich möchte, dass die Politik nach so vielen Monaten endlich einheitliche Lösungen zum Corona-Schutz in Kitas findet und sich nicht darauf ausruht, dass ja momentan noch gutes Wetter ist."

Wir kuscheln Nase an Nase, ohne jeden Schutz

Seit Juni arbeiten wir hier in Berlin im Regelbetrieb und alle Kinder werden wieder betreut. Doch seit Corona ausbrach, fühlen wir Erzieher uns zunehmend alleine gelassen. Es scheint, als hätten die Politiker uns schlicht vergessen. Das beginnt damit, dass wir auf der Arbeit keinerlei Schutzmöglichkeiten vor dem Virus haben.

Es wird uns davon abgeraten, mit Mund-Nase-Schutz zu arbeiten, weil Kinder die unmittelbare Nähe ihrer Betreuer brauchen und Sprache zu großen Teilen über die Mimik erlernt wird. Dafür müssten die Kinder also zumindest unseren Mund durch eine transparente Maske sehen können. Im Gegensatz zu Supermarkt-Kassierern trennt uns auch keine Plexiglasscheibe, die Kinder sitzen dicht bei uns um zu kuscheln, Nase an Nase. Einem kleinen Kind, kann man nicht erklären, dass es bitte Abstand halten soll, wenn es getröstet werden möchte. Das entspricht nicht dem Kindeswohl.

"Mir scheint, als ob immer nur über die Schulen gesprochen und sich die Politik auf die steile These verlassen würde, dass Kleinkinder vermutlich nicht so stark ansteckend seien."

Noch dazu sind die Räume viel zu klein. Natürlich sitzen die Gruppen da auch mal dicht an dicht. Noch kann man lüften, doch schon zum Ende der Woche soll es kühler werden, der Herbst kommt. Würden wir da ständig die Fenster aufhaben, würden nicht nur für die Kinder, sondern auch für uns Erzieher ständige Erkältungen heraufbeschwören. Um mich als Erzieherin auch nur annähernd sicher fühlen zu können, müssten CO2-Messgeräte und Luftfiltersysteme in allen Kita-Räumen installiert werden. Die wären aber zu teuer. Deshalb wissen die pädagogischen Fachkräfte in Kitas schon jetzt – bei uns wird nicht im Traum daran gedacht.

Trend macht Sorgen: Kinderärzte verweigern Corona-Tests zunehmend

Es ist ein Dilemma. Kinder und Erzieher mit Erkältungssymptomen sollen nicht in die Einrichtungen, was ja verständlich ist. Andererseits sind die Eltern auf die Betreuung angewiesen. Ich arbeite in einem Brennpunkt und kenne die Sorgen der Familien: Viele haben Angst, mit der nächsten Erkältung ihres Kindes ihren Arbeitsplatz zu verlieren.

Deshalb schicken wir die Eltern mit einem kranken Kind zum Arzt, um einen Corona-Test machen zu lassen, dann könnte es ja wieder zurück. Viele Kinderärzte verweigern diese Tests jedoch zunehmend und die Eltern bleiben ratlos zurück.

Erzieher in Berlin haben übrigens das Recht, sich regelmäßig auf Corona testen zu lassen, doch das letzte Mal wurde auch ich von der Klinik abgewiesen, da ich eine Woche zuvor schon einmal da war.

Für mich ist das unlogisch: Ich habe schließlich täglich nahen Kontakt zu vielen Kindern, fahre außerdem jeden Tag eine Stunde mit öffentlichen Verkehrsmitteln und nicht alle Passagiere dort tragen einen Mund-Nase-Schutz. Würde ich mich infizieren, würde ich die Kinder gefährden. Die Tests wären also die einzige Möglichkeit, zumindest schnell Infektionsketten nachzuvollziehen.

"Wir sind der Corona-Regeln müde, die dann doch nicht umsetzbar sind."

Drosten-Warnung wird ignoriert

Mir scheint, als ob immer nur über die Schulen gesprochen und sich die Politik auf die steile These verlassen würde, dass Kleinkinder vermutlich nicht so stark ansteckend seien. Dass wir hier über eine Krankheit sprechen, die noch keiner richtig kennt, wird gerne vergessen. Zudem gibt es längst andere Erkenntnisse, die einfach ignoriert werden: Auch der Virologe Christian Drosten warnt vor der Annahme, Kinder spielten keine Rolle im Pandemiegeschehen.

Die Träger der Kitas werden von den Ämtern alleine gelassen und sollen selbst schauen, wie sie die Corona-Maßnahmen umsetzen. Ich kann aus der Praxis nur sagen: Das ist schlicht eine unmögliche Aufgabe.

Ich betreue bis zu zehn Kinder gleichzeitig

Unter anderem liegt das am Personalmangel. Jeder Erzieher weiß, dass ein Betreuungsschlüssel von drei bis vier Kindern auf eine Bezugsperson ideal wäre. In der Realität betreue ich allerdings acht bis zehn Kinder gleichzeitig. Wir sind zu viert, nur zwei von uns arbeiten Vollzeit. Vergangene Woche war es dann so weit: Die Hälfte der Betreuer fielen aus und wir saßen zu zweit mit den insgesamt 24 Kindern da, von denen einige auch noch besonderen Förderbedarf haben. So große Gruppen schränken die Arbeit extrem ein: Wir konnten zum Beispiel nicht rausgehen, weil das zu unübersichtlich geworden wäre. Die Kinder müssen ihre Bedürfnisse dann leider zurückstellen.

"Wir haben zu große Gruppen, zu kleine Räume, keinen Schutz und all diese Probleme befeuern sich gegenseitig."

Natürlich wird versucht, das Personal dann hin und her zu schieben, um den Mangel aufzufangen. Im Sinne der Corona-Ordnung ist das nicht, schließlich sollen die Erzieher eigentlich bei ihren festen Gruppen bleiben. Aber was wäre die Lösung? Es wäre an der Zeit, dass Politiker erkennen, dass es Handlungsbedarf gibt: Keine Betreuerwechsel quer durch die Gruppen und stabile kleine Gruppen, nur so wären Infektionsketten eingrenzbar.

Wir sind der Corona-Regeln müde, die dann doch nicht umsetzbar sind. Gerade erst bekamen wir neue Leitlinien für den Herbst: So soll nicht gesungen werden und Kinder sollen ihre Spielzeuge nicht untereinander tauschen. Man schaut sich diese Papiere mit Vorgaben an und legt sie beiseite. Das alles ist weit weg von unserer Arbeitsrealität und den Eigenarten kleiner Kinder.

Viele Erzieher werden vom Streik nichts haben

Es fehlt an Geld für größere Räumlichkeiten und mehr Personal, das man bräuchte, um die Maßgaben umzusetzen. Dieser Mangel ist nicht erst seit gestern ein Problem, wird aber durch Corona verstärkt. Der Frust der Kollegen wächst. Unser Beruf wird leider ja auch immer noch bescheiden entlohnt, auch wenn wir systemrelevant sind.

"Es scheint, als hätten die Politiker uns schlicht vergessen."

Die Anerkennung für unsere Leistung, gerade in solchen Zeiten, fehlt uns. Nun wollen die Gewerkschaften für etwas mehr Gehalt streiken, doch viele Erzieher werden davon nichts haben. Die Kitas sind zunehmend über freie Träger organisiert, so wie meine auch. Ich darf also gar nicht streiken, auch wenn ich es gerne würde.

Mir geht es aber gar nicht so sehr um den Lohn: Ich möchte, dass die Politik nach so vielen Monaten endlich einheitliche Lösungen zum Corona-Schutz in Kitas findet und sich nicht darauf ausruht, dass ja momentan noch gutes Wetter ist und wir viel raus können. So wird Zeit vertan. Vielleicht braucht es doch Schutzkleidung oder eine Maskenpflicht. Wir wollen uns und die Kinder vor einer Infektion schützen, deren Spätfolgen noch gar nicht bekannt sind. Das ist auch keine Panikmache, wie viele sagen, sondern momentan die Realität.

Es gibt viele unlogische Regelungen, Einzelfallentscheidungen und Dilemmata, die uns das Arbeitsleben erschweren. Wer einmal im Internet nach #BildungAberSicher sucht, weiß, wovon ich spreche. Viele meiner Kollegen sind so ratlos wie ich: Wir haben zu große Gruppen, zu kleine Räume, keinen Schutz und all diese Probleme befeuern sich gegenseitig. Wir müssen und wollen weiterarbeiten – aber bitte so, dass es für alle sicher ist.

Protokoll: Julia Dombrowsky

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