Für mich gehören die 80er zum gelebten Leben. Für Jüngere sind sie eine Zeit vor der eigenen Zeitrechnung. Quasi pränatal. Mythisch. Magisch. Das Verrückte: Uns beide, also die Digital Natives und die anderen, die wie ich vom analogen ins digitale Zeitalter migrierten, packt angesichts einer retroromantischen Serie wie "Stranger Things" eine kollektive Nostalgiesucht. Aber wieso?
Wie sinnstiftend eine Epoche war, merkt man ja immer erst im Nachhinein. Während der 80er interessierten mich diese herzlich wenig. Es war halt einfach das Heute, in dem ich lebte, ein Heute mit seinen Gadgets, seinem Soundtrack, seinen Filmen und Serien. Es begann mit "E.T." – einer fiktionalen Konfrontation von Kindern mit einem Alien – und wurde mit dem realen Fall der Berliner Mauer beendet.
In den 80ern war die Welt das, was man "noch in Ordnung" nennt. Von einer analogen Reinheit, wie sie danach nie mehr sein würde. Kein Mensch fürchtete sich vor sowas wie der Globalisierung. Der Kalte Krieg befand sich in seinen letzten Jahren und hielt die weltweiten Kräfteverhältnisse in einer praktischen Schwebe. Der Westen war gut, der Osten böse, was durch das Reaktorunglück von Tschernobyl aufs Trefflichste bewiesen wurde.
Der musikalische Osten von Europa endete in Wien, nämlich beim frivolen Koksverherrlicher Falco, Amerika dagegen konnte nicht präsent genug sein, die größten Popstars hießen Michael Jackson, Madonna, Whitney Houston. Die größten? Gab es damals überhaupt einen Popstar, der nicht groß war? Flutete nicht so viel Fun wie nie vorher die Welt?
Mit Musik ging alles besser. Bob Geldof versuchte mit dem All-Stars-Konzert "Live Aid" Afrika zu retten. Überhaupt wollte man damals viel retten, allem voran bedrohte Robbenbabies. Denn was irgendwie nach Kuscheltier aussah, war super. Zum Beispiel die "Gremlins" oder der Drache Fuchur in "Die unendliche Geschichte". Fluffige Sänger wie Limahl und George Michael. Und Stephen King schrieb "Friedhof der Kuscheltiere".
Der "Eurovision Song Contest" hieß noch "Grand Prix Eurovision de la Chanson" und war nicht wichtig. Die Musikvideo-Sendung "Formel Eins", die ab 1983 in den Dritten Programmen und später in der ARD lief, schon. Prinzessin Stephanie de Monaco hatte einen Hit mit der Single "Ouragon". Lady Di und Kim Wilde prägten mit ihren blonden Föhnwellen die Friseurkunst eines Jahrzehnts. Nena bewies allen, das man sich auch mit Achselhaar an die Spitze der Charts singen konnte. Und 1985 gewann Boris Becker mit 17 Jahren Wimbledon. Alle waren plötzlich sehr, sehr jung.
Das Buch, das wir damals alle nicht lesen durften, der Film, der wir nicht sehen durften, hieß "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo". Übles, tödliches Berlin. Und in Zürich starben die Junkies am Letten. Städte, so lernte ich als Landkind, waren reine Drogenhöllen. Weshalb ich auch nicht nach Basel ans Gymnasium durfte, sondern bloß nach Muttenz im Kanton Baselland. Basel, hieß es, sei einfach voller Drogen.
Mobiltelefone? Nie gehört. Schnell entzog man sich so jeder Aufsichtsmöglichkeit der Eltern. Verschwand im tiefsten Wald oder in der tiefsten Stadt und keinen kümmerte es. Denn auch die Helikoptereltern waren damals noch nicht erfunden.
Vom Internet wurde höchstens in Science Fiction geträumt. Die Agilität von Mails, von sozialen Medien, von Werbung, die auf das Webverhalten der User abgestimmt war, von Kommunikations-Apps – völlig unvorstellbar. Pornos spielten auf dem Pausenplatz keine Rolle, höchstens Doktor Sommer aus der "Bravo". Wer fotografierte, entwickelte seine Bilder noch in einer Dunkelkammer, und Geld holte man ganz physisch auf der Bank oder am Postschalter. In den Ferien löste man Schecks ein.
Es war eine Welt die von heute aus gesehen wie unter Zeitlupe erscheint. Alles brauchte seine Zeit, man musste sich irgendwohin begeben, um nach etwas zu suchen, Lexika und Bibliotheken waren unabdingbar, alles war sehr physisch.
Typisch, dass im Kino unzählige Tanzfilme liefen, "Dirty Dancing", "Flashdance", "Footlose". Tanzten wir damals viel? Aber sicher. Auf Partys, in Skilagern, mit und ohne Zahnspange.
Was ich heute aus den 80ern behalten habe, was in einer Serie wie "Stranger Things" aus den 80ern wieder zum Leben erweckt wird, gleicht selbst so einem dünn gespielten Band aus Kunststofffolie. Die Erinnerungen werden blasser, werden hoffnungslos nostalgisch, bestehen aus Musikfetzen und Dingen, die ich gar nie besessen habe. Etwa ein BMX-Motorrad, das mir aber so oft als Essenz der 80er vorgehalten wurden, dass es langsam auch in meiner Biografie eine Rolle zu spielen beginnt.
Und ja, wahrscheinlich lassen sich die 80er von all den vielen Jahrzehnten vor uns am einfachsten verklären. Weil die 80er retrospektiv das letzte Jahrzehnt vor dem digitalen Umbruch waren, vor der totalen Vernetzung und Entgrenzung. Die Welt war klar und simpel. Eine kindliche Zeit. Grenzen waren Grenzen. Und was sie zu überschreiten vermochte, waren unschuldige Kinder, Außerirdische oder Monster. Genau so wie "Stranger Things" dies jetzt wieder zelebriert. Passt schon.