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Oxfam-Studie: Tiefer Graben zwischen Arm und Reich

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Superreiche bekommen 2,5 Milliarden mehr pro Tag – tiefer Graben zwischen Arm und Reich

21.01.2019, 07:41
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Die Kluft zwischen Arm und Reich in der Welt hat der Organisation Oxfam zufolge im vergangenen Jahr gefährlich zugenommen. Das Vermögen der Milliardäre sei um durchschnittlich 2,5 Milliarden US-Dollar (2,19 Mrd Euro) pro Tag gestiegen – ein Plus von 12 Prozent zum Vorjahr. Dagegen habe die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung 11 Prozent – 500 Millionen Dollar je Tag – verloren. Zu diesem Ergebnis kommt die Organisation in ihrem Ungleichheitsbericht, den sie kurz vor Beginn der Jahrestagung des Weltwirtschaftsforums (WEF) in Davos vorstellte. Auch in Deutschland habe sich die Lage nicht verbessert – nötig seien ein höherer Mindestlohn sowie eine stärkere Belastung von Vermögenden, Konzernen, Erbschaften und hohen Einkommen.

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Palästinensische Kinder im Gazastreifen wärmen sich an einem Feuer.Bild: imago stock&people

Die Nothilfe- und Entwicklungsorganisation warnte, dass weltweit besonders Frauen und Mädchen von sozialer Ungleichheit bedroht seien. So besäßen Männer im globalen Durchschnitt 50 Prozent mehr Vermögen als Frauen. Zudem hätten Frauen wegen unbezahlter Arbeit wie Pflege oder Kindererziehung oft weniger Zeit, sich politisch zu betätigen –dies verstärke ihre Benachteiligung und zementiere ein Wirtschaftssystem, das von Männern für Männer gemacht sei.

Oxfam-Chefin Winnie Byanyima forderte die Staatengemeinschaft zu höheren Investitionen in Bildung auf:

"Die Größe des Bankkontos sollte nicht diktieren, wie viele Jahre Kinder in der Schule bleiben oder wie lange wir leben. Doch dies ist nach wie vor die Realität in zu vielen Ländern der Erde."

Nötig sind dem Bericht "Public Good or Private Wealth" (Gemeinwohl oder privater Reichtum) zufolge zudem höhere Investitionen in die öffentliche Gesundheitsversorgung sowie eine stärkere und effektivere Besteuerung von Konzernen und Vermögenden. Es sei dringend Zeit zu handeln, so Ellen Ehmke, Oxfam-Deutschland-Referentin für soziale Ungleichheit. "Jeder Tag, den wir verlieren, verschärft das Ungleichheitssystem."

Weltweit lebten noch immer 736 Millionen Menschen in extremer Armut – also von maximal 1,90 US-Dollar je Tag. Die Entwicklung sei aber positiv: Die Zahl habe sich zwischen 1990 und 2010 halbiert und nehme weiter ab. Ehmke wies aber darauf hin, dass fast die Hälfte der Weltbevölkerung – etwa 3,4 Milliarden Menschen oder 46 Prozent – von maximal 5,50 Dollar pro Tag lebe. Vielen Menschen drohe etwa bei Krankheit der Fall in die extreme Armut, weil sie Behandlungen oder Medikamente nicht bezahlen könnten.

Oxfam warnte zudem, die Schere zwischen Arm und Reich verstärke die Spaltung in der Gesellschaft. Jörn Kalinski, Leiter Entwicklungspolitik von Oxfam Deutschland, sagte:

"Das Problem der wachsenden sozialen Ungleichheit ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit."

Sie biete einen Nährboden für gefährliche Entwicklungen wie Rechtspopulismus und aggressiven Nationalismus.

Hierzulande steigerten die Milliardäre ihr Vermögen im vergangenen Jahr um 20 Prozent, wie aus dem Bericht hervorgeht. Insgesamt verfüge das reichste Prozent der Bevölkerung über ebenso viel Vermögen wie die 87 ärmeren Prozent. Damit zähle Deutschland zu den Industrienationen mit der größten Vermögensungleichheit. Mit 15,8 Prozent liege die Armutsquote auf dem höchsten Stand seit 1996, jedes fünfte Kind sei von Armut betroffen. Frauen verdienten im Durchschnitt 21,5 Prozent weniger als Männer; schlechter sei die Lage in der EU nur in Estland und Tschechien.

Zur Bekämpfung der Ungleichheit in Deutschland forderte Oxfam eine Erhöhung des Mindestlohns. "Der Mindestlohn ist zu niedrig, gerade in Ballungszentren", sagte Referentin Ehmke. So ließen sich etwa die stark steigenden Mieten mit dem derzeitigen Satz von 9,19 Euro pro Stunde nicht mehr bezahlen.

Es gebe allerdings auch Fortschritte, sagte Oxfam-Steuerexperte Tobias Hauschild und verwies auf Pläne der EU zur Besteuerung von Großkonzernen oder die Aufhebung des Bankgeheimnisses in der Schweiz. "Das sind Dinge, über die vor zehn Jahren nicht geredet wurde." Kalinski betonte, einige Entwicklungen – etwa die Amtsführung von US-Präsident Donald Trump, der Brexit oder der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien – hätten zudem in Politik und Wirtschaft zum Nachdenken geführt. Nötig sei nun aber eine konsequente Sozialpolitik.

Die kapitalismuskritische Hilfsorganisation Oxfam errechnet jedes Jahr pünktlich zum Weltwirtschaftsforum in Davos, wie viele Super-Milliardäre über genauso viel Geld verfügen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Der Report sorgt aber auch für Widerspruch – vor allem von marktliberalen Experten. Kann die Studie dem standhalten? Ein Faktencheck zentraler Kritikpunkte:

Behauptung: Oxfam ignoriert, dass weltweit immer mehr Menschen den Aufstieg aus bitterer Armut schaffen.
Falsch.
In den Berichten weist Oxfam regelmäßig darauf hin, dass die krasseste Form von Armut weltweit insgesamt zurückgeht – so auch diesmal: "Eine der großen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte war der enorme Rückgang der in extremer Armut lebenden Menschen, die von der Weltbank als 1,90 US-Dollar pro Person und Tag definiert wurde." Das lobt die Organisation in einer Stellungnahme als "völlig wahr und absolut großartig". Allerdings kritisiert sie, dass sich dieser Trend nunmehr abschwächt – und bezieht sich dabei auf den Armutsbericht der Weltbank. Danach wird vor allem in den afrikanischen Regionen südlich der Sahara "extreme Armut zunehmend zu einem Problem". Oxfam argumentiert, dass noch mehr Menschen aus ihrer schlimmsten Lage hätten befreit werden können, wenn sie in ähnlicher Weise vom wirtschaftlichen Erfolg profitiert hätten wie die Reichsten auf der Welt. Zudem wird beanstandet, dass viele Betroffene zwar nicht mehr extrem arm, aber doch weiterhin arm seien. Oxfam verweist darauf, dass fast die Hälfte der Weltbevölkerung von maximal 5,50 Dollar pro Tag lebe, weil ökonomischer Erfolg nur marginal dort ankomme.
Behauptung: Die Daten zur Armut werden von Oxfam nicht korrekt erfasst und auf reißerische Weise vereinfacht.
Ungenau. Die Zahlen zur Verteilung stimmen in der Tendenz. Die Quellen zu Armut und Reichtum miteinander zu vergleichen, hat allerdings einige Fallstricke.
Wie kommt Oxfam zu der Kluft zwischen Arm und Reich? Grundlage für das Vermögen der ärmeren Bevölkerung sind die Daten des "Global Wealth Report" der Schweizer Großbank Credit Suisse , das der Superreichen die jährliche Milliardärsliste des Magazins "Forbes".Kritiker sehen darin aber einen Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen. Besonders stoßen sie sich an der Berechnungsmethode für die ganz arme Bevölkerung. Die Credit Suisse definiert in ihrem Report Vermögen als die Summe aus privaten Finanzanlagen, Vorsorge und Sachwerten wie Immobilien – allerdings abzüglich der Schulden. Daraus die Definition von Armut abzuleiten, ist ihrer Meinung nach problematisch. Eine Beispielrechnung: Nach dem Credit-Suisse-Report hätte der Hochschulabsolvent eines westlichen Industrielandes, der zwar einen lukrativen Job begonnen, aber noch Zehntausende Euro Schulden aus einem Studentendarlehen hat, weniger Vermögen als ein schuldenfreier Bettler in Bangladesch, der womöglich von 1,50 Dollar am Tag über die Runden kommen muss. Oxfam stelle – so die Kritik – den Job-Neuling deswegen ärmer dar als den extrem bedürftigen Menschen in einem Entwicklungsland. Das heißt: Den Allerärmsten würden auch Menschen zugerechnet, die hoch verschuldet sind – aber eben nicht arm. Oxfam hält dagegen. Würde selbst das ärmste Zehntel der Weltbevölkerung aus der Rechnung herausgenommen werden (weil möglicherweise einige hoch verschuldete Menschen aus generell reichen Ländern in dieser Gruppe überproportional vertreten seien), ändere dies nichts an der grundsätzlichen Erkenntnis. Denn die ärmsten zehn Prozent hätten keinen großen Einfluss auf das Gesamtvermögen der ärmeren 50 Prozent. Sogar vehemente Oxfam-Kritiker stellen fest, dass die ungleiche Verteilung des Vermögens weltweit massiv ist. Oxfam bereitet die Zahlen durchaus medienwirksam auf. Laut Selbstbeschreibung will die Entwicklungshilfe-Organisation die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ursachen von Armut beseitigen - und dabei vor allem "den Bedürfnissen und Anliegen der in Armut lebenden Menschen" Gehör verschaffen. Oxfam ist also eine Interessengruppe, die im Sinne ihrer Klientel argumentiert. Zum Phänomen Armut gibt es seit jeher verschiedene Vorstellungen und Definitionen. So wurde etwa immer wieder Kritik daran laut, reine Einkommens- oder Vermögenswerte zur "Messung" zu verwenden. Entwicklungsexperten wiesen zudem darauf hin, dass es neben absoluter Armut – wo oft Grundbedürfnisse nicht mehr befriedigt werden können – auch unterschiedlich empfundene Ausmaße "relativer" Armut gibt.
Behauptung: Oxfam geißelt den Kapitalismus.
Tendenz richtig, aber zu kurz gegriffen.
Im Leitbild definiert sich Oxfam selbst nicht als antikapitalistische Organisation. Dennoch wird aus Veröffentlichungen und Stellungnahmen immer wieder deutlich, dass sie die ungleiche Vermögensverteilung als Effekt des freien Marktes betrachtet. Sie spricht sich gegen "eine extreme Form des Kapitalismus" aus. Das marktliberale Institute of Economic Affairs (IEA) in London wirft Oxfam etwa vor, den Kapitalismus zu dämonisieren. So werde ignoriert, dass "Millionen Menschen wegen freier Märkte der Armut entkommen" seien. Das IEA argumentiert, den Reichtum der sehr Vermögenden zu mindern, führe nicht zu Umverteilung, sondern zu dessen Zerstörung. Oxfam verteidigt sich: "Es gibt keinen Zweifel, dass Kapitalismus und Wirtschaftswachstum eine große Rolle darin spielen können, Menschen dabei zu helfen, sich aus der Armut zu befreien." Allerdings will die Organisation darüber wachen, dass das System nicht nur für einige, sondern für alle Menschen einen Mehrwert bietet.

(dpa)

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