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Hasskommentare, weil sie über Kindesmissbrauch spricht: Lena Jensen wehrt sich

Lena Jensen, Missbrauchs-Opfer aus Hamburg, Miss Germany-Anwärterin
Hasskommentare zementieren das Schweigen rund um Kindesmissbrauch, glaubt Lena.Bild: privat / Aufgenommene Momente
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"Bist du gekommen?": Kindesmissbrauchs-Überlebende erfährt Hate – und hat genug

09.08.2023, 19:3310.08.2023, 15:58
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Solche Kommentare erreichen Lena Jensen, wenn sie aus ihrer Kindheit berichtet. Sie wurde jahrelang von Bekannten ihrer Familie sexuell missbraucht, bis sie sich mit sechs Jahren ihrer Mutter und der Polizei anvertraute. Die ganze Geschichte erzählte sie bereits hier.

Online setzt sich die 30-Jährige seitdem für mehr Aufklärung zum Thema Kindesmissbrauch ein und spricht über Warnsignale, Täter:innen, das Justizsystem und auch das Leben danach, das wieder fröhlich sein kann und voller Liebe. Für viele Betroffene ist sie gerade deshalb eine Mutmacherin, doch anderen scheinbar ein Dorn im Auge. Denn: Für ihre Offenheit erfährt Lena extrem viel Hass.

Watson erzählt die Wahlhamburgerin, wann es verletzende Kommentare regnet und mahnt Hater, dass sie mit ihren Sprüchen den Kampf gegen Kindesmissbrauch erschweren.

"Geschichten aus dem Paulanergarten", "Alles nur für Likes und Klicks" oder eben "Geh sterben" – das sind nur einige der Kommentare, die ich online erhalte, wenn ich darüber spreche, dass ich als Kind sexuell missbraucht wurde.

Es erschreckt mich, dass Betroffene derart angegangen werden, wenn sie den Mut aufbringen, ihre Geschichte zu teilen. Auf meinem Channel kläre ich über Kindesmissbrauch auf, spreche über Warnsignale und mache anderen Überlebenden Mut, aber umso mehr Follower ich habe, desto häufiger erreichen mich auch ebenjene hasserfüllten Nachrichten. Und ich muss sagen: Es reicht.

"Viele Menschen haben ein ganz bestimmtes Bild von Kindesmissbrauch-Betroffenen im Kopf – gebrochen, bedeckt, traurig – und das sollen wir erfüllen."

Ich habe mal ein Strandbild gepostet und sinngemäß dazu geschrieben, dass ich es mir früher nicht vorstellen konnte, je wieder so frei in meinem Körper zu sein. Da kamen sofort Kommentare à la: "In einem Bikini darfst du nicht über Kindesmissbrauch reden." Dasselbe muss ich mir auch anhören, wenn ich mich im kurzen Rock zeige. Leider typisch.

Betroffene dürfen nicht sexy aussehen

Viele Menschen haben ein ganz bestimmtes Bild von Kindesmissbrauch-Betroffenen im Kopf – gebrochen, bedeckt, traurig – und das sollen wir erfüllen. Entsprechen wir diesem Klischee nicht oder wagen es sogar, glücklich in unserer Haut zu sein, sind wir in ihren Augen unglaubwürdig. Als hätte man eine lebenslange Beweispflicht des Traumas.

Viele Menschen können nicht verstehen, dass man Sexualität auch leben darf, wenn man sexuellen Missbrauch erfahren hat. Diese Macht über den eigenen Körper wiederzuerlangen, ist für viele Überlebende mit jahrelanger Therapie verbunden.

Schlimm genug, dass man betroffen war. Aber einige Menschen wollen, dass man für immer darunter leidet. Warum? Wir dürfen Spaß am Leben haben, wie jede:r andere auch. Anstatt sich für uns zu freuen, scheint das einige aber so aufzuregen, dass sie es für nötig halten, einen bösen Kommentar abzusenden.

Mit diesem Problem bin ich nicht alleine. Mir schreiben sehr oft Frauen, die ähnliches wahrnehmen: Sobald sie etwas engeres tragen, heißt es, sie seien niemals vergewaltigt oder missbraucht worden, sie machten sich unglaubwürdig. Das ist nur eine weitere Form von Victim Blaming.

Von Spott und Lügen-Vorwürfen

Dann gibt es auch immer heftige Reaktionen, wenn ich explizit über Vorfälle aus meiner Vergangenheit berichtet habe. Zum Beispiel als ich angefangen habe, über "Pädophilen-Partys" zu sprechen, auf die ich als Kind selbst mitgeschleppt wurde – darüber wurde sich viel lustig gemacht. Vielleicht auch, weil Menschen sich das nicht vorstellen können.

"Genau diese miesen Reaktionen (...) sind nämlich einer der vielen Gründe, warum sich viele Betroffene gar nicht erst zu Wort melden."

In einigen Kommentaren wird mir unterstellt, ich würde mir alles ausdenken, andere suchen die Schuld bei mir und dann kommen da noch diese ekelhaften Kommentare, wie: "Zahlen die wenigstens?" oder "Klingt doch lustig!"

Die Leute vergessen, dass im Netz echte Menschen unterwegs sind und oftmals sind die Kommentare sogar rechtlich nicht in Ordnung. Einer hat geschrieben: "Ich mache regelmäßig selbst Pädophilen-Partys" – da frage ich mich schon, warum das jemand schreibt. Wenn es ein Witz wäre, wäre er nicht gerade komisch. Und wenn es kein Witz ist, ist es strafbar.

Am Anfang hat mich das echt mitgenommen. Ich dachte: Mache ich etwas falsch? Kann ich das Thema anders kommunizieren, damit diese Reaktionen ausbleiben? Früher habe ich noch mit den Hatern debattiert, mich erklärt, aber das bringt gar nichts.

Ich verliere dadurch nur Energie, die ich lieber dem eigentlichen Thema widme. Also lasse ich das so stehen und richtig schlimme Kommentare mache ich öffentlich, auch um zu zeigen, was Menschen wie mir, die sich gegen Kindesmissbrauch einsetzen, entgegenbläst.

Kein Wunder, dass so viele Betroffene lieber schweigen

Genau diese miesen Reaktionen – die übrigens nicht nur online aufkommen – sind nämlich einer der vielen Gründe, warum sich viele Betroffene gar nicht erst zu Wort melden. Jeder dieser Hasskommentare, unterstützt indirekt die Täter:innen, weil er einschüchtert und verspottet.

Und ja, solche Kommentare können einen wirklich zu Boden drücken. Es trifft mich, wenn Familie und Freunde angegangen werden oder mich Drohungen erreichen. Es ist anstrengend, diesen Hass durchzulesen.

Ständig heißt es: "Warum hat das Opfer nichts gesagt?" Aber wenn man das tut, kommt gleich: "Irgendwie peinlich. Muss man das jedem ungefragt auf die Nase binden?!"

"Einen bösartigen Kommentar zu hinterlassen, ist aber eine aktive Entscheidung."

Ich habe Jahre gebraucht, um an den Punkt zu kommen, an dem ich jetzt bin. Ich zeige mein Gesicht und rede über ein extrem intimes Thema, auch im Namen all jener, die es derzeit noch nicht können. Ich erkläre, wie meine Mutter und meine Schwester mit dem Kindesmissbrauch umgingen, wie meine Anzeige bei der Polizei und das medizinische Gutachten ablief, wie ich zurück ins Leben fand. Aber egal, wie transparent ich bin, mir werden Lügen unterstellt.

Man könnte ja auch einfach bei sich denken: "Glaub' ich ihr nicht." Oder "Ist nicht mein Thema" und mir entfolgen. Einen bösartigen Kommentar zu hinterlassen, ist aber eine aktive Entscheidung.

Hate beweist, dass Aufklärung weiter nötig ist

Inzwischen habe ich gelernt, damit umzugehen. Ich habe mich mit der Beratungsstelle "Hate Aid" zusammengesetzt. Einige Kommentare kann ich jetzt besser ignorieren, andere zeige ich bei der Plattform an und andere bald auch bei der Polizei, das wird demnächst passieren.

Schade, dass ich eine solche Selbstverständlichkeit aussprechen muss, aber: Wenn sich Betroffene zu Wort melden, darf die erste Reaktion nicht Spott und Misstrauen sein. Damit wird Aufklärungsarbeit erschwert und das toxische Schweigen verschärft, das Kindesmissbrauch umgibt. Das sollte jedem klar sein, der nach einem Frust-Tag fiese Sätze in die Tasten hämmert.

"Ich werde anderen Menschen nie wieder die Macht darüber geben, was ich erzählen darf."

Ich habe mich oft gefragt, wer hinter diesen Kommentaren steckt. Die Täter:innen werden es vermutlich nicht sein. In Einzelfällen sind es Trolle, aber mir wurde von "Hate Aid" erklärt, dass es sich bei den meisten Hasskommentaren um Menschen aus dem Umfeld mit Fake-Profilen handelt – total erschreckend.

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Der Grund, warum ich dennoch weitermache ist die große Masse an Leuten, die hinter mir steht und meine Arbeit supportet, die sagen: "Lena, es macht mir Mut, dich zu sehen. Hör nicht auf!" Ich habe lange genug geschwiegen. Ich werde anderen Menschen nie wieder die Macht darüber geben, was ich erzählen darf.

Die Zweifler und Hater sorgen eher dafür, dass ich denke: "Jetzt erst recht." Gerade weil es offenbar noch so viele Vorurteile gibt, müssen wir weiter darüber sprechen. Ich werde es jedenfalls tun.

Alkohol, Pillen, Glücksspiel: Wo Kinder suchtkranker Eltern Hilfe finden

"Das ist ein Leidensdruck, der sich oft jahrelang potenziert", sagt Mia Marianne Drost. Sie arbeitet bei dem Verein Nacoa Deutschland, der sich für Kinder aus suchtbelasteten Familien starkmacht. Nacoa ist eine Anlaufstelle, bei der Kinder Hilfe finden. Und nicht nur, wenn sie nach dem Gesetz als Kinder gelten, sondern auch erwachsene Kinder, wie Mia sie nennt.

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