Es sind nur ein paar wenige Klicks, schon ist der Kopf der Klassenkameradin auf den Körper der Pornodarstellerin montiert und das Sex-Video an die ganze Jahrgangsstufe verschickt. Die Betroffene wird kurz darauf mit Nachrichten bombardiert – mit Worten und Aufforderungen, die üblicherweise nicht in einem Zeitungsartikel stehen.
Beleidigung, Bedrohung, sexuelle Belästigung und Nötigung sowie Erpressung per Smartphone gibt es den Experten zufolge an nahezu jeder Schule. Doch oft genug bekommen die Erwachsenen diese Fälle gar nicht mit. Die Täter polieren auf diese Weise ihr Selbstbewusstsein auf, die Mitwisser halten aus Angst lieber die Klappe, die Opfer schweigen aus Scham – und allen zusammen ist oftmals nicht bewusst, dass Grenzen verletzt werden, die zu überschreiten noch vor kurzem undenkbar schien.
schildert Simone Fleischmann, Vorsitzende des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV).
Eine große Rolle spielen dabei die sozialen Medien, die die Kommunikation in der Gesellschaft verändert haben – und damit auch die Kommunikation in den Schulen.
"Wenn man früher Konflikte zwischen Schülern hatte, dann hat man das gesehen, dann gab es eine Prügelei oder einen lautstarken Streit. Da konnte man als Pädagoge eingreifen", schildert Ilka Hoffmann, die Schulexpertin der Bildungsgewerkschaft GEW.
Doch während die Täter sich tatsächlich immer wieder in der Anonymität des Netzes verstecken können, sieht es für die Opfer ganz anders aus: "Derjenige, der dieses Nacktbild mit meinem Kopf gestern in die Klassenchatgruppe gestellt hat, begegnet mir am nächsten Tag im Klassenzimmer, und alle anderen begegnen mir auch. Damit ist die digitale Anonymität überschritten, und das packen die Jugendlichen nicht", berichtet Fleischmann.
Das Fatale ist: "Die Opfer suchen die Ursachen bei sich. Das führt zu ganz massiven Selbstwertschädigungen", erklärt Schulexpertin Hoffmann. Die meisten zögen sich stark zurück. Während Jungs manchmal aggressiv würden, komme es bei Mädchen häufiger zu selbstverletzendem Verhalten.
Das erleben auch Esther Papp und Cem Karakaya immer wieder. Sie befassen sich am Polizeipräsidium München mit Prävention und haben täglich mit Sexting, Sextortion, Cybermobbing und Cybergrooming zu tun – Begriffe, die viele Eltern noch nie gehört haben, im Leben vieler Kinder aber Alltag sind.
Exakte Zahlen zu diesen Phänomenen gibt die Polizeiliche Kriminalstatistik laut Bundeskriminalamt nicht her. Doch alle Experten sind sich einig, dass die bekannt werdenden Fälle lediglich die Spitze des Eisbergs sind.
"Wir könnten als Polizei pro Tag pro Schule mindestens 400 Handys beschlagnahmen und Anzeigen erstellen", ist Karakaya überzeugt. Der Beamte geht regelmäßig an Münchner Schulen, um das Bewusstsein der Heranwachsenden zu schärfen. Völlig nüchtern resümiert er, dass Pornos für Siebtklässler inzwischen Alltag sind, die Zwölfjährigen zugleich aber kein Bewusstsein dafür hätten, dass vieles von dem, was ihnen täglich in den sozialen Netzwerken begegnet, Straftaten sind: etwa Bedrohung, sexuelle Belästigung und Nötigung oder die Verletzung des Rechts am eigenen Bild oder des höchstpersönlichen Lebensbereiches.
Den jungen Opfern gibt Karakaya den Ratschlag, sich so früh wie möglich an einen verantwortlichen Erwachsenen zu wenden, Übergriffe etwa per Screenshot zu dokumentieren und im Zweifel auch Anzeige zu erstatten, "um zu zeigen, dass du dir nicht alles gefallen lässt, dass du nicht das Opfer bist, dass du dich wehrst".
"Das sind knallharte Sachen, die die Jugendlichen psychisch gar nicht verarbeiten können", erlebt auch Papp immer wieder. Die Folgen reichten bis hin zum Suizid. Die Beamten raten den Schülern deshalb, sich immer zwei Fragen zu stellen, bevor sie etwas posten:
Oft erleben sie, dass die Schüler regelrecht schockiert sind, wenn sie gezeigt bekommen, welche Informationen Facebook & Co. über sie preisgeben.
Karakaya und Papp wissen, dass ihre Arbeit nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist. Sie sehen in erster Linie die Eltern in der Verantwortung – doch die setzten sich mit den Gefahren der digitalen Welt viel zu selten auseinander, geschweige denn, dass sie den Weg mit ihren Kindern gemeinsam beschreiten würden. "Es ist ja bequem, wenn die Kinder mit ihren Smartphones in ihrem Zimmer verschwinden", bilanziert Papp. "Doch hinterher ist das Geschrei groß, wenn was passiert ist."
(ts/dpa)