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Tönnies: Darum fällt uns Fleischverzicht so schwer – und so kann er gelingen

Group of friends having picnic in the park
Fleisch gehört zu den Grundnahrungsmitteln – auch weil viele Menschen keine Alternativen kennen.Bild: iStockphoto / bernardbodo
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Nach Fall Tönnies: Psychologin erklärt, warum wir nicht auf Fleisch verzichten wollen

29.06.2020, 13:29
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Seit dieser Woche steht die Welt in den Landkreisen Gütersloh und Warendorf wieder still: Der bisher größte Corona-Ausbruch Deutschlands im Fleischereibetrieb Tönnies in Rheda-Wiedenbrück hatte einen weiteren Lockdown zufolge, den Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) vergangenen Dienstag verkündete.

Der Fall mit über 1500 positiv auf das Virus getesteten Tönnies-Mitarbeitern zieht nicht nur die Wut der Menschen in den betroffenen Landkreisen auf sich, die nun bis zum 30. Juni wieder strenge anti-pandemische Maßnahmen befolgen müssen. Kritik prasselt nun auf die gesamte Fleischindustrie ein. Die teils miserablen Arbeitsbedingungen in den Betrieben werden für die schnelle Verbreitung von Krankheitserregern verantwortlich gemacht.

Dafür tragen auch Verbraucherinnen und Verbraucher Verantwortung. Denn wer billig und viel Fleisch essen will, fördert indirekt die unlauteren Produktionsbedingungen. Kritische Stimmen fordern ein Umdenken in der Fleischindustrie und im Konsum. Wie aber schaffen wir es, weniger Fleisch und tierische Produkte generell zu uns zu nehmen? Und warum essen wir überhaupt so viele Lebensmittel tierischen Ursprungs?

Darüber hat watson mit Tamara Pfeiler gesprochen. Sie ist Doktorin der Psychologie sowie Dozentin an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz, forscht zur Psychologie des Fleischessens und berät als Vegan-Coach Menschen, die gerne auf tierische Lebensmittel verzichten wollen.

"Wie viel Fleisch wir tatsächlich konsumieren, merken wir erst, wenn wir versuchen, keines mehr zu essen."

Der Durchschnittsdeutsche isst fast 60 Kilo Fleisch pro Jahr. Warum eigentlich so viel?

Viele essen ja nicht nur Fleisch zu den warmen Mahlzeiten, sondern auch Wurstwaren zum Frühstück oder Abendbrot – und zwar teilweise täglich. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland deswegen auch im oberen Drittel, was den Fleischkonsum betrifft. Wie viel Fleisch wir tatsächlich konsumieren, merken wir erst, wenn wir versuchen, keins mehr zu essen: Vor allem beim Restaurantbesuch wird uns klar, wie wenige vegetarische oder vegane Optionen es manchmal gibt.

Früher war der Sonntagsbraten etwas Besonderes. Welchen gesellschaftlichen Stellenwert hat Fleisch heutzutage noch?

Ich finde das Beispiel mit dem Sonntagsbraten schwierig. Wie viele von uns haben den denn tatsächlich noch erlebt? Dass wir so häufig Fleischwaren essen, gehört schon seit längerer Zeit zu unserem Alltag dazu. Dadurch zeigt sich übrigens, dass Fleisch einen sehr hohen Stellenwert hat in unserer Gesellschaft: Es gehört schon lange zu den Grundnahrungsmitteln.

Die Fleischproduktion wurde sogar als systemrelevant eingestuft. Was halten Sie davon?

Das ist ein guter Ausdruck dessen, wie die Politik über den Konsum von Fleisch und generell tierischer Produkte denkt. Es wird signalisiert, dass es einfach dazu gehört, diese Lebensmittel zu konsumieren.

"Es gibt sehr wohl Möglichkeiten, mithilfe von Kommunikation einen Verhaltenswandel zu schaffen – sofern ein Thema priorisiert wird."

Seit dem Corona-Ausbruch bei Tönnies steht die Fleischindustrie in der Kritik. Glauben Sie, dass vielen Menschen nun der Appetit aufs Fleisch vergeht?

Von allein wahrscheinlich nicht, das haben auch diverse andere Fleischskandale aus der Vergangenheit bewiesen. Es kommt nun auf die Maßnahmen der Regierung an – und wie die Medien den Fall kommunizieren. Während der Corona-Krise haben wir gemerkt: Wenn ein Thema an oberster Stelle der politischen Agenda steht und tagein, tagaus rauf und runter kommuniziert wird, dann reagieren wir dementsprechend. Während der Pandemie hat sich eine ganze Gesellschaft extrem schnell und extrem stark einschränken lassen, um sich selbst und andere zu schützen. Daraus können wir positive Lehren ziehen: Es gibt nämlich sehr wohl Möglichkeiten, mithilfe von Kommunikation einen Verhaltenswandel zu schaffen – sofern ein Thema priorisiert wird. Das gilt auch für den Konsum tierischer Produkte oder den Klimawandel, der noch viel zu wenig im Vordergrund steht.

Tamara Pfeiler forscht zur Psychologie des Fleischessens.
Tamara Pfeiler forscht zur Psychologie des Fleischessens.Bild: privat

Warum ist es denn so schwierig, Menschen von einer Ernährung zu überzeugen, die auf Fleisch oder allgemein tierische Produkte verzichtet?

Es herrscht noch viel Unwissenheit bei dem Thema. Auch spielen Glaubenssätze eine große Rolle: Die herrschen nicht nur bei Vegetariern oder Veganern vor. Menschen, die Fleisch und tierische Produkte konsumieren, glauben, das ist normal – und es ist schwierig, bewusst von der Norm abzuweichen. Da spielt auch sozialer Druck eine Rolle. Ein anderer Aspekt ist der gesundheitliche: Viele Menschen denken, dass Fleisch, Milch oder Käse zum Beispiel wegen des Proteins oder diverser Vitamine notwendig seien für eine gesunde Ernährung. Sie fürchten sich, krank zu werden, wenn sie diese Produkte weglassen. Da brauchen wir noch ganz viel Aufklärung und eine positive Kommunikation über die Vorteile von pflanzenbasierter Ernährung.

"Wir haben gar nicht auf dem Schirm, dass auch der Metzger nebenan sehr wahrscheinlich sein Fleisch aus Massentierhaltung bezieht."

Was meinen Sie damit?

Wir müssen vegetarische oder vegane Küche gar nicht über Verzicht kommunizieren – sich ohne tierische Produkte zu ernähren, kann auch bereichernd sein. Jeder Veganer und jede Veganerin wird Ihnen erzählen, wie viel bunter seine oder ihre Küche seit der Umstellung geworden ist. Da steht plötzlich nicht mehr täglich Fleisch mit Kartoffeln auf dem Speiseplan, sondern verschiedenes Gemüse, Seitan oder Quinoa. Der Verzichtsgedanke ist lediglich ein Stereotyp.

Müssen wir denn tatsächlich auf Fleisch und tierische Produkte verzichten, um einen Wandel in der Industrie zu schaffen? Würde es nicht reichen, wenn wir in besseres Fleisch investieren?

Es gibt Menschen, die bereit sind, etwas mehr in bessere tierische Produkte zu investieren. Dahinter steckt auch ein Tierwohlgedanke: Wir glauben, wenn wir ein bisschen mehr für beispielsweise Fleisch ausgeben, dann geht es dem Tier besser, bis es geschlachtet wird. Dabei haben wir gar nicht auf dem Schirm, dass auch der Metzger nebenan sehr wahrscheinlich sein Fleisch aus Massentierhaltung bezieht. Denn daher stammen 95 bis 98 Prozent aller Fleischprodukte.

"Auch ich habe erst mit 26 Jahren angefangen, mir Gedanken darüber zu machen, dass es nicht natürlich ist, dass die Kuh immer Milch gibt."

Wie kommt es, dass wir dieses Bewusstsein nicht haben?

Wir wachsen mit einer Bilderbuch-Idylle im Kopf auf, wie Tierhaltung idealerweise aussehen soll: Schon als kleine Kinder gucken wir uns Büchlein an, in denen die Tiere auf dem Bauernhof auf einer grünen Wiese stehen und glücklich sind. Das führt zu einer kognitiven Verzerrung: Wenn wir mehr Geld für Fleisch ausgeben, damit es den Tieren besser geht, wollen wir einen Zustand aus unserer Erinnerung erzeugen, den es so niemals gab. Diese Bewusstseinslücke haben viele Leute: Auch ich habe erst mit 26 Jahren angefangen, mir Gedanken darüber zu machen, dass es nicht natürlich ist, dass die Kuh immer Milch gibt. Wenn wir uns allerdings mit der Realität beschäftigen, fangen die Rechtfertigungsstrategien an.

Die da wären?

Nun, eben die besagten Glaubenssätze, dass Fleisch und tierische Produkte gesund und notwendig seien, oder wir rechtfertigen uns, dass wir zumindest in gute Haltungsbedingungen investiert hätten, weil wir zum Beispiel Bio-Fleisch gekauft haben. Aus tierethischer Perspektive lässt sich das allerdings nicht so leicht begründen. Schließlich ist das Tier am Ende doch für unseren Konsum gestorben. Das Existenzbedürfnis, das jedes Lebewesen natürlicherweise hat, wurde somit missachtet – das lässt sich mit Tierwohl letztlich schwierig argumentieren.

Dabei wollen die meisten Menschen doch wahrscheinlich keinem Lebewesen schaden. Ist das nicht ein Widerspruch?

Doch. In der Psychologie nennt sich das kognitive Dissonanz: Wir erfahren einen inneren Widerspruch, wie zum Beispiel beim Fleischessen. Einerseits sind wir es gewohnt, Fleisch zu konsumieren und finden es lecker. Andererseits wissen wir wegen unserer Empathiefähigkeit, die uns als Menschen nun mal ausmacht, um den Gewaltakt des Schlachtens. Deswegen kann kein Tier ohne Legitimation getötet werden – und deswegen entstehen solche rechtfertigende Fiktionen wie die Bauernhofidylle. Unsere Psyche schützt uns so davor, emotional zu tief in das Thema reinzugehen.

"Der aktuelle Fall um die Corona-Ausbrüche bei Tönnies zeigt uns: Das ist zwar ein Skandal, aber die gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema fehlt."

Das heißt, wir wollen uns mit dem Schlachten von Tieren nicht auseinandersetzen, eben weil wir so empathisch sind?

Genau. Wir können uns schließlich nicht aussuchen, für wen oder was wir Empathie empfinden, und im Zweifelsfall wollen wir uns vor negativen Emotionen schützen. Und dabei helfen uns auch Glaubenssätze, die Fleischkonsum als normal, natürlich und notwendig legitimieren, da sie eine aktive Auseinandersetzung mit diesem emotionalen Konflikt umgehen. Gleichzeitig werden wir von Regierungsseite nicht dabei unterstützt, uns tiefergehend mit dem Thema Tierwohl zu befassen. Auch das zeigt uns der aktuelle Fall um die Corona-Ausbrüche bei Tönnies: Das ist zwar ein Skandal, aber die gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema fehlt.

Was sind Ihre Tipps, wenn man vegetarisch oder vegan leben möchte, es aber nicht hinbekommt?

Der Wille, keine tierischen Produkte mehr konsumieren wollen, ist schon ein guter Start – denn das bedeutet, dass ich schon einmal ein positives Bild von vegetarischer oder veganer Ernährung habe. Und dann empfehle ich, einen Kochkurs zu machen, bei dem ich lerne, wie ich leckere Gerichte auch ohne Fleisch, Käse oder Sahne zubereite. Auch kann ich mir soziale Unterstützung holen – denn manchmal ist es auch sozialer Druck, der mich in meinem Vorhaben scheitern lässt. Dann ist es ratsam, sich zum Beispiel einem veganen Stammtisch anzuschließen oder Tipps in Blogs und den sozialen Medien einzuholen. Im Zweifelsfall kann ich einen Coach aufsuchen, der mir auf meinem Weg zur Vegetarierin oder Veganerin begleitet.

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