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"Kaputtgefickte Mädchen" durch Prostitution? Warum Undine ihren Job liebt

Undine de Rivière
Bild: Undine de Rivière
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"Kaputtgefickte Mädchen?" Prostituierte widerspricht: Etwas ganz anderes führt zu mehr Übergriffen

Hurenausweis, Meldepflicht, Kontaktverbot – Sex-Arbeiterin Undine stört vieles am deutschen Prostitutionsgesetz. Ein Verbot ist für sie jedoch die schlechteste Lösung.
23.04.2019, 09:01
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Das watson-Interview mit der Ex-Prostituierten und heutigen Prostitutionsgegnerin Marie Merklinger hat für eine lautstarke Debatte gesorgt. Merklinger sagte darin, dass es keine freiwillige Prostitution gebe und forderte, dass diese deshalb verboten werden müsse.

  • Hier könnt ihr das Interview lesen: "Junge Mädchen werden hier kaputtgefickt" – Ex-Prostituierte will Sexkaufverbot erreichen

Es ist Zeit, die Gegenseite zu hören: Wir haben bei Undine de Revière (45) nachgefragt. Sie lebt in Hamburg und ist dort seit 25 Jahren als Sex-Arbeiterin tätig. Sie ist außerdem Gründungsmitglied des Berufsverbandes erotische und sexuelle Dienstleistungen e.V. Auf ihrer Homepage bietet de Revière neben BDSM-Leistungen auch klassischen Escort-Service an. Im watson-Interview erklärt sie, was aus ihrer Sicht ein Verbot der Prostitution in Deutschland bewirken würde – und warum sie kein Verständnis für die Ex-Prostituierte Marie Merklinger hat.

watson: Frau de Rivière, Sie arbeiten seit 25 Jahren als Sex-Arbeiterin. Hat Sie dieser Beruf schon immer interessiert?
Undine de Rivière: Ich war schon als Teenager davon fasziniert. Damals natürlich noch mehr in einem abstrakten Sinne. Aber ich hatte nie eine Scheu bei dem Thema.

Wir sprachen mit einer Ex-Prostituierten, die sagte, Prostitution mache Frauen kaputt. Wie empfinden Sie das?
Ich persönlich werde davon nicht kaputt gemacht. Ich kenne natürlich Kolleginnen, die irgendwann mal eine Burn-out-Erfahrung hatten. Das gibt es aber auch in vielen anderen Berufen.

Ich kenne mehr Krankenschwestern, die von Burn-out betroffen sind als Sex-Arbeiterinnen.

Aber in Ihrem Gewerbe gibt es das auch.
Ja, wenn man sich übernimmt; wenn man mehr arbeitet, als man wollte oder Dinge anbietet, die einen überfordern, ist das auch hier real. Und natürlich gibt es dann Menschen, die im Nachhinein sagen, sie haben falsche Entscheidungen getroffen. Dafür den Beruf als solchen verantwortlich zu machen, empfinde ich als falsch.

Aus der Sicht von Prostitutionsgegnern sind alle Menschen, die in der Branche arbeiten, Opfer. Gibt es eine selbstbestimmte Prostitution?
Sicher. Im gleichen Maße, wie es in unserem Wirtschaftssystem überhaupt Selbstbestimmung gibt. Menschen arbeiten immer für Geld. Fragen Sie eine Sekretärin, ob sie wirklich Lust hat, montags morgens ins Büro zu gehen oder ob sie nicht lieber für das Geld zuhause bleiben möchte. Man sollte für die Sexarbeit dieselben Maßstäbe anwenden wie bei anderen Berufen.

Marie Merklinger sagte im watson-Interview, die Frauen wollen gar kein Sex mit den Männern.
Das ist ein Schwarz-Weiß-Denken, das da einfach nicht angebracht ist. Sex-Arbeit ist eine Dienstleistung, die macht mal mehr und mal weniger Spaß. Je nachdem, mit welchem Kunden man zusammenarbeitet und auch wie die Arbeitsbedingungen sind.

"Sex-Arbeit ist eine Dienstleistung, die macht mal mehr und mal weniger Spaß. Je nach Kunde."

Wichtig ist, dass der Job grundsätzlich okay für denjenigen ist, der ihn ausübt. Und dann muss man zwischen "Selbstbestimmung" und "Selbstverwirklichung" unterscheiden. "Selbstverwirklichung" heißt: Macht mir der Job Spaß? Ziehe ich da was für mich persönlich raus, was über das Honorar hinausgeht? Das gibt es natürlich auch in der Sex-Arbeit. Und es gibt Leute, die sind in unserer Branche völlig falsch. Für die Masse der Sexarbeitenden ist der Job mal mehr, mal weniger in Ordnung.

Welche Auswirkungen würde ein Prostitutionsverbot in Deutschland Ihrer Meinung nach haben?
Ein Prostitutionsverbot wäre ein absoluter Rückschritt. Das sehen wir in den Ländern, wo dieses Verbot schon gilt. Es würde uns in die Illegalität treiben und die vorhandenen Probleme enorm verstärken. Wenn jemand illegal arbeitet, dann geht er natürlich auch nicht mehr zur Polizei. Zum Beispiel, wenn ein Übergriff stattfindet. Alles, was uns oder unsere Kunden in die Illegalität drängt, verschlechtert die Arbeitsbedingungen.

Was halten Sie von dem nordischen Modell, bei dem Freier als kriminell eingestuft werden?
Da wird ja die Nachfrageseite kriminalisiert. Wir sehen jetzt, wie die Langzeitfolgen in Schweden aussehen. Die dortigen Kolleginnen sind mehr damit beschäftigt, ihre Kunden vor Entdeckung zu schützen, als für ihre eigene Sicherheit zu sorgen. Das Gesetz hat in Schweden einen enormen Rückhalt. Was verschwiegen wird, ist, dass die meisten Schwedinnen und Schweden auch gerne die Nachfrageseite kriminalisiert sehen. Die gesellschaftliche Anerkennung von Sex-Arbeiterinnen ist noch weiter gesunken. Würden wir die Freierbestrafung in Deutschland einführen, würden die schlechten Gesetze bleiben und ein weiteres schlechtes Gesetz würde hinzukommen.

Sexworker in Schweden haben weniger Rechte, sind mehr Gewalttaten ausgesetzt, werden gesellschaftlich mehr geächtet denn je.

Es gibt keine Rechtssicherheit, das Hilfesystem versagt auch in der Praxis. Wenn sie nicht aussteigen wollen, wird den Sex-Arbeitern überhaupt nicht geholfen. Wenn das in Deutschland ebenfalls durchgesetzt werden würde, wäre das eine vollkommene Katastrophe und ein völliger Rückschritt.

Es wird also immer Sex-Arbeit geben – die Frage ist nur, ob sie legal stattfindet?
Selbstverständlich. Das sehen wir überall. Es gibt viele Länder der Welt, wo Sexarbeit verboten ist und gleichzeitig findet sie überall statt. Ich weiß auch nicht, warum es erstrebenswert sein soll, Sexarbeit abzuschaffen.

Marie Merklinger sprach in unserem Interview auch die Zwangsprostitution an. Wenn restriktivere Gesetze nicht helfen, was braucht es dann, um Ausbeutung in der Branche zu verhindern?
Ausbeutung und Menschenhandel sind in vielen Branchen ein Problem. Das haben wir auch in der Pflege, in der Landwirtschaft, im Baugewerbe, da kommt es immer wieder vor und das auch im großen Umfang.

Nur sprechen wir gerade über Prostitution.
Deswegen machen meiner Meinung nach nur Lösungsmaßnahmen Sinn, die eben allen Ausgebeuteten helfen. Dazu gehören die Bekämpfung von Armut, die Unterstützung und Beratung von Betroffenen und die Stärkung ihrer Rechte. Das ist sehr viel effektiver als ein Verbot in irgendeiner Form. Wenn man es schafft, das Wohlstandsgefälle abzuschaffen oder zu mindern, wäre das hilfreich. Außerdem wäre eine Stärkung unserer beruflichen Selbstvertretungen wünschenswert, zum Beispiel, indem man den Berufsverband der Sexarbeiter fördert. Grundsätzlich würden eine rechtliche Gleichstellung mit anderen Berufen, mehr Akzeptanz in der Bevölkerung und ein Abbau der Stigmatisierung helfen, um die Rahmenbedingungen der Sexarbeit zu verbessern.

Die Sex-Arbeit hat viele Gesichter. BDSM ist eines davon.
Die Sex-Arbeit hat viele Gesichter. BDSM ist eines davon.imago

Bevor 2017 das Prostituiertenschutzgesetz in Kraft getreten ist, haben viele Sex-Arbeiterinnen, Verbände und Beratungsstellen kritisiert, das Gesetz würde nicht zu ihrem Schutz beitragen, sondern ihnen eine selbstbestimmte Arbeit weiter erschweren. Was für eine Bilanz ziehen Sie heute?
Dieses Gesetz ist praxisfern und zum großen Teil durch den Druck von Prostitutionskritikerinnen entstanden.

Wie wir es erwartet haben, sind die Anmeldepflicht und der "Hurenpass" in der Branche nicht angekommen und das Gesetz führt dazu, dass drei Viertel der Branche jetzt illegalisiert arbeitet.

Aufgrund der Überregulierung von Bordellen und anderen "Prostitutionsgewerben" ist ein erheblicher Teil von guten Arbeitsplätzen weggefallen, viele weitere sind in Gefahr. Viele kleine Zusammenschlüsse von Sex-Arbeitenden sind schon geschlossen worden, weil sie unter das Prostitionsgewerbe fallen und keine Lizenz bekommen, oder weil die bürokratischen Hürden zu hoch sind. Das ist alles nicht in unserem Sinne.

Ihrem Verband geht es darum, die Arbeitenden zu schützen, aber auch die Kunden?
Um erfolgreich arbeiten zu können, brauchen wir natürlich unsere Kunden. Ich arbeite in Hamburg. Es gibt im Ortsteil St. Georg die sogenannte Kontaktsverbotsverordnung, die Kunden untersagt, Sex-Arbeitende anzusprechen. Das hat hier in Hamburg St. Georg dazu geführt, dass sich die Kundenstruktur verändert hat. Die meist angenehmeren Freier, die gesetzestreuen, sind dann weggeblieben.

Für die Kolleginnen bleiben dann die Kunden übrig, die meist unangenehmer sind und denen es egal ist, ob sie gegen das Gesetz verstoßen oder nicht.

Es werden die Falschen verjagt?
Genau. Was übrig bleibt, ist eine höhere Quote an gewalttätigen Übergriffen. Bei einem Austausch von Dienstleistungen eine Seite zu kriminalisieren, ist für beide Seiten schädlich.

Polizeistreife auf St. Georg: Hier herrscht Kontaktaufnahmeverbot.
Polizeistreife auf St. Georg: Hier herrscht Kontaktaufnahmeverbot.imago

Haben Sie Verständnis für Frauen wie Marie Merklinger, die aus eigener Erfahrung heraus Prostitution verbieten lassen wollen?
Dafür habe ich leider überhaupt kein Verständnis. Für ihre eigenen schlechten Entscheidungen, die sie da getroffen hat, die Branche verantwortlich zu machen und ein Verbot zu fordern, das kann ich gar nicht nachvollziehen.

Hat sich ihr Männerbild durch Prostitution verändert?
Nein. Auch nicht mein Menschenbild. Es ist ja nicht so, dass nur Männer Sex-Arbeit in Anspruch nehmen. Ich habe auch weibliche Kundinnen. Meine persönliche Erfahrung sagt, dass die Kunden, die zu uns kommen, nichts als die Tatsache unterscheidet, dass sie Sexarbeit in Anspruch nehmen. Das ist die sogenannte "Jedermannhypothese", die auch durch die Freierforschung bekräftigt wird.

Unsere Kunden sind Menschen aus allen sozialen Schichten, aus allen Einkommensverhältnissen, anstrengende Menschen und solche mit hoher Sozialkompetenz.

Es gab im Jahr 2017 von den Grünen den Vorstoß, Sexualassistenz für Bedürftige, von der Krankenkasse bezahlt, anzubieten. Eine gute Idee?
Es gibt in unserer Branche ja jetzt schon Sexualbegleiterinnen, die älteren und behinderten Menschen sexuelle Begegnungen ermöglichen. Das hat glücklicherweise jetzt schon eine recht hohe Anerkennung in der Gesellschaft und auch beim Pflegepersonal. Dass das von einer Krankenkasse bezahlt wird, halte ich für eine sinnvolle Sache.

Hat jeder Mensch also ein Recht oder Anspruch auf Sex?
Nein, natürlich nicht. Worauf wir aber einen Anspruch haben und immer haben sollten: Wenn zwei Menschen einvernehmlich miteinander eine sexuelle Beziehung eingehen wollen, dass sie auch die Rahmenbedingungen bestimmen dürfen. Wenn ich mich auf eine sexuelle Beziehung einlasse und eine meiner Rahmenbedingungen ist, dass ich dafür bezahlt werde, und ich habe jemanden gefunden, der bereit ist, dafür zu bezahlen, dann sollte das selbstverständlich legal sein. Für beide Seiten. Alles andere ist völlig absurd.

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