Deutschland
Nah dran

Hanau-Anschlag: Angehörige kämpfen weiter für Gerechtigkeit, gegen Hass und AfD

Gedenktag und Demonstration zwei Jahre nach dem rassistischen Anschlag von Hanau 19.02.2022 Zwei Jahre nach dem rassistischen Anschlag von Hanau, bei dem Ferhat Unvar, Hamza Kurtovic, Said Nesar Hashe ...
Am 19. Februar 2020 ermordete ein rassistischer Attentäter neun Menschen in Hanau.Bild: imago images/Nicolaj Zownir
Nah dran

Angehöriger Çetin Gültekin zu Hanau-Attentat: "Die AfD hat mitgeschossen"

19.02.2024, 18:48
Mehr «Deutschland»

Am 19. Februar 2020 starben neun Menschen in Hanau durch die Hand eines Rassisten:

Ferhat Unvar
Hamza Kurtović
Said Nesar Hashemi
Vili-Viorel Păun
Mercedes Kierpacz
Kaloyan Velkov
Fatih Saraçoğlu
Sedat Gürbüz
Gökhan Gültekin

Vier Jahre ist die Tat jetzt her, die ganz Deutschland fassungslos und dutzende Angehörige ohne ihre Liebsten zurückließ.

Innerhalb weniger Minuten hatte der Täter an sechs verschiedenen Tatorten Söhne, Töchter und Geschwister erschossen. In drei Bars, auf der Straße, an einem Discounter-Parkplatz und in einem Kiosk. Orte, an denen die Angehörigen noch heute tagtäglich vorbeigehen. Denn auch vier Jahre nach der Tat leben sie noch in Hanau.

Angehörige leben weiter in Hanau und setzen Zeichen gegen den Hass

Einer von ihnen ist Çetin Gültekin. Der heute 49-Jährige verlor am 19. Februar seinen Bruder Gökhan, der im "Kiosk 24/7", dem fünften Tatort, erschossen wurde. Gökhan war damals 37 Jahre alt.

Çetin Gültekin, Initiative 19. Februar, Bruder des am 19. Februar 2020 aus rassistischen Motiven ermordeten Gökhan Gültekin, Portrait, Europa, Deutschland, Hanau, 08.02.2022. Engl.: Çetin Gültekin, In ...
Çetin Gültekin trägt ein T-Shirt mit Bild seines verstorbenen Bruders Gökhan.Bild: Initiative 19. Februar Hanau / Thomas Pirot

Gerade einmal 500 Meter lebt Çetin heute von der "Initiative 19. Februar" in Hanau entfernt. Jenem Treffpunkt, an dem die Angehörigen der Opfer in den Monaten nach der Tat täglich zusammenkamen, sich austauschten und eigenständig zur Tatnacht ermittelten.

"Ich komme immer noch fast täglich her, so wie viele andere Familien auch", sagt Çetin im Gespräch mit watson. Aus Hanau wegzuziehen, komme für ihn nicht in Frage. "Erstens, weil ich hier geboren bin. Hanau ist meine Heimat. Zweitens: Wenn wir wegziehen würden, hätte ich dem Rassisten das gegeben, was er wollte. Er wollte uns nicht hier haben. Diesen Gefallen werde ich ihm nicht tun."

Konflikte mit Hinterbliebenen: Auch der Vater des Täters wohnt noch in Hanau

Die Familien der Opfer sind nicht die einzigen, die geblieben sind. Auch der Vater des Täters lebt weiterhin in Hanau. Medienberichten zufolge hat er eine ähnlich rechtsextreme Gesinnung wie sein Sohn, der sich nach dem Anschlag selbst erschoss. Er tauche immer wieder vor dem Haus von Serpil Temiz Unvar auf, der Mutter von Ferhat († 23).

Foto von Serpil Unvar, Mutter des verstorbenen Ferhat Unvar, Opfer des Anschlags in Hanau am 19. Februar 2020, und Gründerin der Bildungsinitiative Ferhat Unvar
Serpil Temiz Unvar verlor bei dem Attentat ihren Sohn Ferhat. bild: Bildungsinitiative Ferhat Unvar

"Das Recht, hier zu wohnen, kann ihm rechtlich niemand nehmen", erklärt Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) auf Anfrage von watson. "Auch, wenn man sich wünscht, vielleicht sogar in seinem eigenen Interesse, dass er wegziehen würde." Immer wieder zeige er ein "höchst unangenehmes und zum Teil menschenbeängstigendes Auftreten. Er hat eine subtile Art, Menschen Angst einzuflößen, die aber juristisch schwer zu greifen ist."

"Trauer lässt sich nicht einfach durch einen Umzug bewältigen."
Serpil Temiz Unvar

Kaminsky war schon damals, am 19. Februar 2020, im Amt. "Es war ein furchtbarer Abend, den ich niemals vergessen werde", erzählt er. Auch für ihn habe sich seitdem vieles verändert. "Ich bin wachsamer geworden, wenn es um Hass und Hetze geht und bringe dies auch konsequent zur Anzeige und staatlichen Strafverfolgung."

Kampf gegen Rassismus: Serpil Temiz Unvar gründete eigene Initiative

Serpil Temiz Unvar hat wenige Monate nach der Tat eine Bildungsinitiative im Namen ihres Sohnes Ferhat ins Leben gerufen. Obwohl ihre Arbeit ehrenamtlich ist, sei sie täglich im Einsatz und vertrete die Initiative auch bei externen Veranstaltungen, sagt sie.

Auch sie lebt weiterhin in Hanau. "Trauer lässt sich nicht einfach durch einen Umzug bewältigen. An diesem Ort habe ich meine Erinnerungen, die ich bewahren möchte", sagt sie. "Ein besseres Leben ohne die Erinnerungen an meinen Sohn zu führen, ist für mich undenkbar. Warum sollte ich also umziehen?"

Foto des verstorbenen Ferhat Unvar, Opfer des Anschlags in Hanau am 19. Februar 2020
Ferhat Unvar wurde am 19. Februar 2020 von einem Rassisten getötet.bild: Bildungsinitiative Ferhat Unvar

Die eigene Sicherheit sei nicht ihre größte Priorität. "Ich habe meinen Sohn verloren, persönliche Ängste spielen für mich keine Rolle. Mein Lebensziel ist klar: Ich kämpfe im Namen meines Sohnes für Gerechtigkeit für alle jungen Menschen."

Wie Çetin Gültekins Leben hat sich das von Serpil Temiz Unvar seit dem 19. Februar 2020 für immer verändert. Mit der Arbeit in ihrer Bildungsinitiative will sie jungen Menschen einen Safe Space geben, damit sie ihre Rassismus-Erfahrungen teilen können. "Im Namen meines Sohnes kämpfe ich für eine gerechte Zukunft. Das ist mein Leben. Mehr habe ich nicht."

Watson ist jetzt auf Whatsapp
Jetzt auf Whatsapp und Instagram: dein watson-Update! Wir versorgen dich hier auf Whatsapp mit den watson-Highlights des Tages. Nur einmal pro Tag – kein Spam, kein Blabla, nur sieben Links. Versprochen! Du möchtest lieber auf Instagram informiert werden? Hier findest du unseren Broadcast-Channel.

Angehörige der Hanau-Opfer fühlen sich bis heute nicht sicher

Çetin Gültekin sagt, auch vier Jahre später fühle er sich in Hanau nicht sicher. Selbst in der eigenen Wohnung fürchte er regelmäßig um sein Leben. Seit dem Tod seines Bruders ist er in psychologischer Betreuung, außerdem arbeitsunfähig. "Ich habe Schlafstörungen und kann nicht mehr so essen wie vorher. Das, was ich esse, kommt wieder raus", erzählt er.

Aus Angst versuche er, Menschen möglichst zu meiden. Wenn er das Haus verlasse, dann nur, um in die Initiative zu gehen oder sich außerhalb Hanaus aufzuhalten. Auch er ist Opfer des Attentats, hat einen großen Teil seines Lebens für immer verloren.

AfD: Gültekin ist besorgt über steigende Wahlerfolge rechter Parteien

Wenn Çetin Gültekin die ansteigenden Umfragewerte und die sich häufenden Wahlerfolge der AfD sieht, fühle er sich nicht mehr sicher.

"Wir kämpfen seit vier Jahren jeden Tag gegen Rassismus. Seit unserem Kampf, seit dem 19. Februar 2020, ist die AfD in Hanau doppelt so stark geworden. Damals waren sie unter zehn Prozent, jetzt sind die bei rund 20. In ganz Hessen bei 18 Prozent."

Auch die Tatsache, dass die Zahl der Rechtsextremen und Reichsbürger mit einer waffenrechtlichen Erlaubnis seit 2020 laut Statista gestiegen ist, mache ihm Angst.

"Hier in Hanau hat die AfD mitgeschossen"
Çetin Gültekin

Die AfD bringe bewusst Orte wie Shisha-Bars, die als Treffpunkte von Menschen mit Migrationsgeschichte gelten, mit Gefahr in Verbindung. Sie wolle ausländerfeindliche Stimmung in der Bevölkerung sähen. "Hier in Hanau hat die AfD mitgeschossen", sagt er. Çetin Gültekin betont:

"Es liegt jetzt an uns Bürgern, unserer Gesellschaft. Denn wir gehen an die Wahlurne und kreuzen an. Wir müssen wählen und die AfD entmachten, indem wir sie unter fünf Prozent halten, damit sie nicht mal in die Landtage hereinkommen. Für mich ist es jetzt fünf vor zwölf. Wenn wir jetzt nichts machen, haben wir wieder 1933."
Demonstration gegen die AFD in Ennepetal. 10.02.2024, EU, DEU, Deutschland, Nordrhein-Westfalen, Ennepetal: nach der Ver�ffentlichung der Rechercheergebnisse von Correctiv am 10. Januar zu einem Gehei ...
Çetin Gültekin warnt vor den Folgen einer erstarkenden AfD.Bild: IMAGO images/Markus Matzel

Wie Ferhats Mutter Serpil hat auch Çetin Gültekin einen Weg gefunden, seinen Schmerz zu verarbeiten. Er hat ein Buch geschrieben und es seinem verstorbenen Bruder Gökhan gewidmet: "Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland - Das zu kurze Leben meines Bruders Gökhan Gültekin und der Anschlag von Hanau", heißt es.

"Ich habe meinen Bruder dadurch unsterblich gemacht."
Çetin Gültekin über sein Buch

Gegen das Vergessen, gegen den Hass: Gültekin verarbeitet Trauer in Buch

Mit dem Buch will er gegen das Vergessen kämpfen. Er erzählt darin, wie sein Vater damals nach Deutschland kam und sein Bruder geboren wurde. Er zeichnet dessen Leben nach, von der Geburt bis zum 19. Februar 2020. Und er erzählt, wie er den Tag des Anschlags erlebt hat, wie sich danach neun Familien zusammengeschlossen haben und seither dafür kämpfen, dass ihre Söhne, ihre Töchter, ihre Geschwister nicht vergessen werden.

Das Buch zu schreiben, habe ihm geholfen. "Weil ich etwas Gutes tun möchte mit dem Buch", sagt Çetin Gültekin. "Ich habe meinen Bruder dadurch unsterblich gemacht."

Schmerz, Angst und Trauer sind Çetin Gültekins tägliche Begleiter. Doch er verspüre auch Hoffnung durch die Hunderttausenden Menschen, die aktuell gegen Rechts auf die Straße gehen.

Bremen Demonstration des Bremer Buendnis gegen Rechts, Bremen, 04.02.2024 GER, Demonstration vom Bremer Buendnis gegen Rechts, Bremen, 04.02.2024 Im Transparten mit dem Spruch Fuer eine solidarische G ...
Seit Wochen demonstrieren deutschlandweit Hunderttausende gegen Rechts.Bild: imago images / Fabian Steffens EP_FSS

"Es ist richtig und wichtig, dass man seine eigene Verfassung schützt. Ich hoffe, dass das die Menschen jetzt aufrüttelt und sie sehen, dass man die AfD politisch, wie man sie hierhin gebracht hat, auch wieder zerstören kann", sagt Gültekin.

Dabei ruft er zu friedlichen Demonstrationen auf: "Mit Gewalt wurde bis heute nie etwas gelöst. Aber wir kämpfen für Deutschland mit unseren Worten."

Sein Buch würde er gern an einen Regisseur verschenken. Am liebsten an Steven Spielberg, Martin Scorsese oder Oliver Stone. Damit Gökhans Geschichte und die der weiteren acht Opfer des 19. Februar 2020 für immer bleibt.

Junge Liberale machen Heil gepfefferte Ansage wegen Rentenpaket

Viele junge Menschen sind aktuell sauer. Sie fühlen sich von der Ampel im Stich gelassen, sind unsicher, was die Aussichten für ihre eigene Zukunft angeht. Doch hierbei geht es nicht um die Klimakrise oder den Rechtsruck: Viele junge Menschen haben Angst um ihre Altersabsicherung.

Zur Story