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Hartz 4 und Wohnungsnot: "Meine Mutter hat Angst, Vermieter anzurufen"

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Bild: Getty / watson Montage
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Hartz IV und Wohnungssuche: "Meine Mutter hat Angst, den Makler anzurufen"

18.05.2019, 18:3221.05.2019, 17:16
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Meine Mutter bleibt für mich immer eine Kämpferin. Eine Frau, die mit Anfang 30 nach Deutschland kam, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen, und sich seitdem durchschlägt.

Die sich während ihrer ersten Monate hier kleine Zettel mit kurzen Nachrichten schreiben ließ, mithilfe derer sie einkaufen ging. Darauf stand dann zum Beispiel: "Ich möchte ein Brot, bitte." Dafür schämte sie sich nicht, das ging zunächst eben nicht anders.

Heute traut sie sich kaum, einen simplen Telefonanruf zu tätigen, der fremde Menschen involviert – denn dann müsste sie vielleicht ihre Identität als Hartz-IV-Empfängerin preisgeben.

Als Hartz-IV-Empfänger wird man abgestempelt

Gerade jetzt, während sie versucht, eine neue Wohnung in Berlin zu finden, erweist sich das als Problem. Jeder, der schon mal eine Wohnung in einer Großstadt gesucht hat, weiß: Man muss sich da ganz schön ins Zeug legen und ziemlich vielen Menschen hinterher telefonieren oder schreiben. Das ist grundsätzlich schon nicht angenehm.

Wenn man sich allerdings noch zusätzlich in seiner misslichen finanziellen Lage präsentieren oder gar als arbeitslos outen muss: Na dann, gute Nacht. Dann kriegt man nicht nur die Wohnung nicht, sondern wird auch noch als armer Schlucker abgestempelt. So empfindet das meine Mutter zumindest.

Hartz IV und Wohnungssuche
Watson-Redakteurin Agatha begleitet ihre Mutter, die von Hartz IV lebt, aktuell bei der Wohnungssuche. Dabei beschreibt sie regelmäßig, wie sie die Situation ihrer Mutter erlebt und erforscht, welche Auswirkung Langzeitarbeitslosigkeit in einem sowieso schon angespannten Wohnungsmarkt hat.

Meine Mutter und ich leben schon seit über zehn Jahren nicht mehr in derselben Stadt, den Großteil dieser Zeit waren wir über 600 Kilometer voneinander getrennt. Damals ist meine Mutter für einen neuen Job, den sie nur wenige Jahre später verlieren sollte, von Düsseldorf nach Essen gezogen. Ich bin kurze Zeit später zum Studieren nach München gegangen.

Nun möchten wir beiden wieder in derselben Stadt leben – die Wahl ist auf Berlin gefallen. Ich bin bereits hier, meine Mutter sucht noch eine Wohnung – bisher wenig erfolgreich.

Meine Mutter fürchtet sich davor, Vermieter anzurufen

Vor ein paar Tagen hat sich folgende Unterhaltung zwischen meiner Mutter und mir abgespielt:

Ich rufe sie an und Frage, ob es Neuigkeiten gibt.

"Es geht nicht so richtig voran", sagte meine Mutter. "Meistens kriege ich keine Antworten auf meine E-Mails. Und da anrufen und einen Besichtigungstermin ausmachen kann ich auch nicht, weil ich doch nicht aus Essen hinfahren kann." Der Preis für ein Spontan-Ticket nach Berlin ist in ihrem Hartz-IV-Satz, wenig überraschend, nicht mit einberechnet.

Natürlich könnte ich die Termine für sie wahrnehmen. Aber sie traut sich nicht, welche für mich auszumachen. "Was, wenn du nicht kannst und ich wieder absagen muss?"

"Dann sagst du eben ab."

"Aber dann denken die Leute schlecht über mich. Das ist doch eh schon schwierig, du weißt schon, wegen dem Hartz IV."

"Was, wenn die Leute wegen Hartz IV schlecht über mich denken?"

Sie wirkt eingeschüchtert am Telefon, hilflos. Dass bezahlbarer Wohnraum hart umkämpft ist und Makler mit Anfragen überhäuft werden, deswegen nicht immer antworten, scheint sie nicht auf dem Schirm zu haben. Das Gefühl, machtlos zu sein und sich in einer ständigen Demutshaltung zu befinden, ist recht normal für viele, die eine Wohnung suchen. Egal ob sie gut verdienen oder von Hartz IV leben.

All das ist meiner Mutter allerdings nicht bewusst. Für sie zählt nur: Was sagen die, wenn sie erfahren, dass ich arbeitslos bin? Lohnt es sich dann überhaupt noch, nachzufragen?

Diese Gedanken scheinen sie zu lähmen. Ein simpler Telefonanruf wird plötzlich ähnlich schwer wie ein unangekündigter Mathe-Test.

Solange meine Mutter nicht über Hartz IV sprechen muss, ist alles gut

Ich frage mich, was passiert ist. Wo ist die Frau hin, die früher in Polen ganz selbstverständlich mit Latzhose und geflochtenen Zöpfen ins Gesundheitsministerium kam, wo sie gearbeitet hat – während ihre Kolleginnen ihr böse Blicke zuwarfen?

Wo ist die Frau hin, die mir, als ich klein war, immer gesagt hat, ich solle die Leute klar und deutlich grüßen und nicht nur ein schüchternes "Hallo" murmeln? Und im Supermarkt immer nachfragen, wenn ich was nicht finde.

Wo ist die Frau hin, die vor meinen Freunden manchmal so unpassende und lustige Sprüche klopft, dass ich rot werde?

Ich bin mir sicher, dass es diese Frau noch gibt. Nur eben nicht, wenn sie über ihr Dasein als Hartz-IV-Empfängerin sprechen muss. Und erst recht nicht, wenn sie mit Fremden Menschen darüber reden soll.

Ich frage meine Mutter, ob sie sich wegen ihrer Langzeitarbeitslosigkeit bei der Wohnungssuche demotiviert fühlt. Sie sagt prompt: "Ja, natürlich."

Ob Hartz IV meine Mutter bei der Wohnungssuche demotiviert? "Ja, natürlich", sagt sie.

Sie kann nicht abschätzen, warum ein Vermieter ihr nicht antwortet. Ist es, weil sie "Hartz IV" lesen und deswegen gleich sagen: "Nein, danke" (ihre Theorie)? Oder ist es, weil einfach gefühlt jeder nach einer Wohnung sucht und Vermieter mit E-Mails geflutet werden (meine Theorie)?

Sie fragt sich, welches Bild von ihr die Vermieter im Kopf haben, wenn sie sich durchringt, sie anzurufen. Denken sie an die verwahrlosten Schmarotzer, wie man sie aus dem Fernsehen kennt?

Sie ist nicht so und will nicht so gesehen werden. Meine Mutter ist gepflegt und ruhig, sie arbeitet, so viel sie eben kann (auf 450-Euro-Basis, natürlich beim Jobcenter gemeldet; eine Vollzeitstelle war mit Ende 50, als sie ihren letzten Job verlor, eben nicht mehr drin).

Und wer sich Sorgen macht, dass sie versäumt, ihre Miete zu zahlen: Das geht nicht. Die Kosten für die Warmmiete werden vom Jobcenter direkt überwiesen.

Meine Mutter ist kein fauler Arbeitsloser

Sie will nicht mit dem Klischee eines asozialen, faulen Langzeitarbeitslosen gleichsetzt werden bei einer Wohnungsbewerbung. Und tut es aus Angst dann selbst. "Es ist, als würde ich mich selbst schon diskriminieren", sagt meine Mutter.

Ich versuche, sie zu beruhigen. Die Vermieter meinen das nicht persönlich, wenn sie nicht antworten. Die denken sich auch nichts (hoffe ich), wenn sie Hartz IV hören – das hören die bestimmt zehn Mal am Tag und vergessen das nach fünf Sekunden wieder. Und so oder so sind das Menschen, die meine Mutter niemals treffen wird, wenn sie sie gleich abweisen. Es ist eigentlich egal.

"Du hast Recht, ich sollte mich nicht so stressen", sagt meine Mutter. "Aber ich bin eben so."

"Ich diskriminiere mich selbst", sagt meine Mutter.

Ich bin mir gar nicht so sicher, ob sie so ist. Oder ob sie durch ihre Arbeitslosigkeit erst so geworden ist.

Wir werden es weiter probieren. Ich versuche, meine Mutter bei ihrer Suche zu unterstützen, die Augen aufzuhalten nach Wohnungen, Termine für sie wahrzunehmen. Ich gebe zu, es fällt mir manchmal schwer, geduldig zu sein. Nachzuvollziehen, wie sie sich fühlen muss. Dabei ist es logisch – jemand, der es seit Jahren gewohnt ist, Misserfolge wegstecken zu müssen, wird jetzt nicht plötzlich aufblühen und vor Selbstbewusstsein strahlen.

"Oh, da fällt mir ein: Ich habe letztens eine tolle günstige Küche gesehen, die bekommt man schon für 250 Euro!", sagt meine Mutter am Ende unseres Telefonats.

"Aber Mama, du brauchst doch erst eine Wohnung", antworte ich.

"Ich weiß. Aber ich richte mich im Kopf schon mal ein. Das macht mir gute Laune bei der Suche."

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quelle: www.imago-images.de / via www.imago-images.de
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