"WIR wissen noch nicht, ob wir da Zeit haben", "WIR fanden den neuen Indiana Jones super", "WIR lieben die Falafel von nebenan" – es gibt Paare, die derart symbiotisch ineinander aufgehen, dass das Umfeld schon mit den Augen rollt, wenn sie auf der Party durch die Tür kommen.
Von gleichen Vorlieben, über gemeinsame Hobbys bis hin zu nahezu identischen Outfits teilen einige Menschen mit ihrer "besseren Hälfte" wirklich alles bis hin zur Zahnbürste. Von außen ist dann kaum noch erkennbar, mit welchem Individuum man es da eigentlich gerade zu tun hat, wenn einer den Satz des anderen beendet.
Was steckt hinter dem Wunsch, sich vollständig in der Beziehung aufzulösen? Warum nervt dieses Verhalten einige Außenstehende so sehr und vor allem: Gefährdet derart viel Nähe am Ende die Liebe?
Wir sprachen mit Vera Matt über das "Wir"-Phänomen. Sie ist Paartherapeutin und hat eine psychotherapeutische Praxis in Brandenburg.
Die Expertin sagt, den meisten Paaren ist gar nicht klar, dass sie sich im "Wir"-Modus befinden. "Kein Paar kommt in die Praxis und sagt: 'Wir haben zu viel Symbiose'. Die kommen mit den Symptomen", berichtet die Therapeutin aus der Praxis, "'Wir können nicht streiten', oder 'Im Bett klappt es nicht mehr' oder 'Wir langweilen uns miteinander'. Was dahinter steckt, ist eine Disbalance zwischen Nähe und Distanz."
Alle Beziehungen starten bis zu einem gewissen Punkt mit dem Bedürfnis, aus einem "Ich" ein "Wir" zu machen. Dafür sorgen alleine schon unsere Hormone in der Anfangsphase, erklärt Vera Matt:
Später aber verändere sich dieser Hormonmix langsam "und es kommt die Frage auf: Wer bin ich eigentlich, wenn ich nicht 'wir' bin", erklärt die Therapeutin. Es sei wichtig, dass diese Phase käme, "Das ist eine Phase der Selbstreflexion, wo man auch mal wieder eine Auszeit braucht, allein zum Sport geht oder Freunde trifft. Das sollte in einem Gleichgewicht sein."
Nähe brauche man, um zu kuscheln, sich zu binden, Oxytocin auszuschütten. Die Distanz ist hingegen nötig, um Leidenschaft zu empfinden und Lust auf Sex. "Wenn man immer gleich schwingt, zum Brüderchen und Schwesterchen mutiert, fehlt diese Spannung. Deswegen ist in einer Beziehung beides wichtig", erläutert Vera Matt deutlich.
Fast alle Frisch-Verliebten sind also zu Beginn ein "Wir"-Paar, doch wer nach Jahren in geradezu gruseliger Symbiose lebt, schadet seiner Liebesbeziehung mehr als gedacht. Der Trick sei es, ganz bewusst auch mal aus der Beziehung herauszutreten und eigene Erlebnisse zu schaffen, sei das ein Tag im Café, ein gutes Buch, ein kluges Gespräch. Das bereichert zuletzt auch das Paar.
Jeder habe natürlich ein unterschiedliches Nähebedürfnis, doch auf die individuellen Bedürfnisse solle man unbedingt hören. "Schwierig wird es dann, wenn man sich nicht traut, die Signale wahrzunehmen. Das ist ein verbreitetes Phänomen", erklärt die Therapeutin weiter: "Wir haben keinen Mut, zu sagen: Ich möchte nicht, dass du diesmal mitkommst. Oder andersrum: Verschwinde mal bitte für ein Wochenende."
Es kommt uns unhöflich vor, der Zweisamkeit eine bewusste Absage zu geben. Außerdem wirft es bei vielen Zweifel auf: Schwindet die Liebe, wenn man Ruhe vom anderen braucht? Nein, sagt Vera Matt deutlich:
Wessen Partnerschaft zu A- und B-Hörnchen mutiert ist, wer selbst bemerkt, dass die Spannung fehlt, sollte also ein wenig Self-Care betreiben, bevor die Beziehung sich langsam verabschiedet. Das würde vermutlich auch das Umfeld freuen. Denn viele Freund:innen finden sogenannte "Wir"-Paare vor allem nervig und peinlich.
Warum ist es für Außenstehende so befremdlich, wenn zwei Menschen zu einem großen Liebesknäuel verschmelzen? "Weil keiner der beiden mehr greifbar ist, die beiden sind im 'Wir' verblasst", erklärt die Paartherapeutin. Besonders enge Freund:innen schütteln nach einer Weile nur noch darüber den Kopf. Verständlicherweise, sagt Vera Matt:
Es wirke außerdem sehr "befremdlich, wenn sich zwei Menschen so aufeinander beziehen, als ob sie das Seelenheil miteinander gefunden hätten", erklärt sie weiter. Diese unkritische Sicht, die zuweilen bei Verliebten auftreten kann, ist schwer zu akzeptieren, wenn man das Gegenüber sonst als eigenständigen Menschen kennt. "Da möchte man seinen Freund unwillkürlich schütteln, um zu sehen, ob da noch ein echter Kern drin ist", sagt die Therapeutin.
Schütteln ist aber eigentlich nicht nötig. Im Grund reicht es schon, ab und an ein Freundschafts-Date anzuleiern, einen Wochenend-Trip, einen Tanzkurs oder eine Kaffee-Verabredung vielleicht. Was, ist eigentlich egal. Hauptsache: "Mal nur mit dir alleine..."