Hast du einem Date schon einmal Blumen geschenkt oder in die Jacke geholfen? Dann bist du vermutlich männlich. Denn die klassische Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern ist in vielen Bereichen des Lebens zwar am Bröckeln, doch in Sachen Liebe herrschen – zumindest in heterosexuellen Beziehungen – mehrheitlich uralte und unausgesprochene Regeln vor, die kaum infrage gestellt werden.
Diese lauten im Kern: Er wirbt, sie wird umworben. Beim ersten Kuss ist es oft der Mann, der die Initiative ergreift und beim Heiratsantrag bekommt meist die Frau einen Ring angesteckt. Das empfindet die Mehrheit als romantisches Ideal. Man nennt das auch die sogenannte "Romance Gap".
Die Bezeichnung meint die Tatsache, dass gerade in der Liebe unterschiedliche Erwartungshaltungen für die Geschlechter gelten. Sich dieser Norm unterwerfend, handeln viele Menschen oft unbewusst beim Dating danach, obwohl es vielleicht gar nicht ihrem Naturell entspricht.
Wir sprachen mit Andrea Bräu über das Phänomen. Sie ist Paar- und Sexualtherapeutin in München und arbeitet als Beraterin des Portals "Ashley Madison".
Die Expertin bestätigt, dass zwar der Alltag zwischen Paaren gleichberechtigter als früher läuft, wir in Fragen reiner Romantik aber weiterhin sehr altmodischen Klischees anhängen. Diese Rollenmuster reichten in uralte Zeiten zurück, in denen Männer "die Macher waren, die Kämpfer, die Versorger und eben auch diejenigen, die auf 'Frauenjagd' gingen."
Im Gegensatz dazu war die weibliche Rolle beim Dating eher passiv, die Frau sollte vor allem attraktiv aussehen und anziehend wirken. "Frauen haben seit jeher natürlich mit ihren Reizen gespielt", erklärt Andrea Bräu, "da hat sich wenig geändert."
Das Bild der zarten Frau, die stürmisch umgarnt wird, bis sie sich in die Leidenschaft fallen lässt, ist so oft Thema in romantischer Literatur und Filmen gewesen, dass es sich kaum mehr aufzählen lässt. Die Gesellschaft wird seit Generationen von diesen Rollenbildern "keusch vs. keck" geprägt und empfindet sie als Norm.
Andrea Bräu führt aus:
Derzeit wünschten sich Paare zwar in der Theorie Gleichberechtigung, empfinden die alten Rollenzuschreibung aber weiterhin als romantisch und sexy. Ein verwirrender Kontrast.
"Die Versorger-Nummer ist inzwischen wirklich verändert", sagt die Therapeutin dazu, "aber dass Frauen nun Männer 'jagen', Heiratsanträge machen und mehr sexuelle Erfahrung haben als ihre Partner, ist für beide Seiten irgendwie schwierig [zu verdauen]."
So findet man auf Instagram zum Beispiel unter dem Hashtag "shesaidyes" über 6 Millionen Posts. Hashtag "hesaidyes" hingegen? Keine 200.000 Einträge. Diese zeigen zudem nur selten heterosexuelle Ehepaaren. Die Mann-Frau-Rollen der Romantik sind auch 2023 in der Gesellschaft offenbar fest verteilt.
Bis es also nicht weiter erwähnenswert wird, dass sie beim ersten Date sein Abendessen zahlt und er sich an der Haustür mit scheuem Kuss und einem "heute nicht" verabschiedet, wird es noch etwas dauern. "Ich denke, da braucht der Zeitgeist noch eine Weile", sagt Andrea Bräu.
Doch der Wandel ist im Anmarsch. Und besonders beim Dating in der digitalen Welt fällt er oft leichter als im echten Leben, glaubt die Paartherapeutin und erklärt dazu:
Diese Sicherheit hinter dem Screen macht Frauen beim Flirten forscher und schließt damit die "Romance Gap" ein Stück. Andrea Bräu: "Aus einer Umfrage von Ashley Madison geht hervor, dass 79 Prozent der weiblichen Mitglieder und 59 Prozent der männlichen Mitglieder denken, dass sie am ehesten online eine Beziehung finden."
"Eine Erklärung für diesen beträchtlichen Unterschied kann sein, dass Online-Dating Frauen unter anderem aufgrund der größeren Anonymität die Kontrolle gibt", glaubt die Therapeutin.
Mit etwas Distanz haben einige Frauen scheinbar nicht mehr so große Bedenken, den aktiven Part beim Flirten zu übernehmen. Gut so. Denn ob er oder sie den ersten Schritt macht, zaudert oder vorprescht, Blumen schickt oder empfängt – Hauptsache, am Ende finden sich zwei Menschen, die sich lieben.