Schon mit drei Jahren habe ich mich absichtlich übergeben. Das behauptet zumindest meine Mutter.
Wann genau es anfing – daran erinnere ich mich nicht mehr. Seit jeher spielte sich allerdings folgende Situation bei uns zu Hause ab: Jedes Mal, wenn meine Eltern mich mit etwas füttern wollten, das ich nicht kannte, machte ich erst einmal einen Aufstand, musste das Essen dann doch in den Mund nehmen, spürte den fremden Geschmack und die ungewohnte Konsistenz. Ich fühlte, wie sich mir der Speichel im Mund sammelte, die Tränen in die Augen schossen, der Magen verkrampfte. Und dann musste ich brechen.
Ich war schon immer ein nervöser Esser. Was ich nicht kannte, machte mir Angst. Umso mehr tat mir Nahrung seelisch gut, zu der ich nicht überredet oder gezwungen werden musste: Chips, Schokolade, Pommes – alles Ungesunde eben.
Schon im Grundschulalter musste ich lernen: Das, was ich gerne esse, ist schlecht. Später sollte ich lernen: Dass man so viel ungesunden Kram isst, ist gar nicht so schlimm. Man kann das wiedergutmachen. Indem man sich den Finger in den Hals steckt.
Wenn man genauer darüber nachdenkt, ist Essen eine recht komplizierte Angelegenheit. Eigentlich sollten wir alle Ernährungsexperten sein. Schließlich nehmen wir alle täglich Nahrung zu uns. Mehrmals. Mal bewusst, mal beiläufig. Mal mit anderen zusammen, mal allein. Mal gesund, mal ungesund. Aber im Prinzip weiß jeder, wie es geht: Mund auf, Essen rein, kauen, schlucken, fertig.
Schnell gehen wir davon aus, dass das bei allen Menschen genauso funktioniert. Das ist so wie Atmen – wenn du da deinem Instinkt nicht folgst, fällst du irgendwann tot um. Ähnlich ist das, wenn du nicht isst.
Und gleichzeitig ist Essen allerdings so etwas Intimes. Du tust etwas in deinen Körper rein. Du nimmst Nahrung mit all deinen Sinnen wahr. Und du reagierst vielleicht sensibel, wenn jemand dein Essverhalten kritisiert. Man denke nur mal darüber nach, welch erbosten Diskussionen Vegetarier und Fleischesser zum Beispiel führen können.
Ich habe mich seit jeher für mein Essverhalten geschämt – und gleichzeitig lange Zeit nicht verstanden, woher diese Scham kommt. Als Kind bei Freunden zum Essen eingeladen zu werden, war der blanke Horror. Meistens habe ich mich nicht getraut, mitzuessen, weil ich Angst hatte, mich zu übergeben. Die Eltern empfanden mich dann als zu wählerisch oder gar undankbar.
Einmal gab es bei einer Freundin zu Hause Sauerkraut, das wollte ich nicht essen. Meine Freundin sagte, sie möge das auch nicht. Ich freute mich, weil ich nun eine Verbündete hatte – zumindest in Hinblick auf Sauerkraut.
Daraufhin sagte die Mutter zu mir: "Du hältst mal lieber den Mund, denn du magst nämlich gar nichts."
Was bei Freunden Scham war, war zu Hause pure Verzweiflung. Bei uns wurde in der Regel nicht gemeinsam gegessen. Jeder nahm seinen Teller und zog sich an seinen Lieblingsort in der Wohnung zurück. Nur manchmal sagte mein Vater: "Nein, du bleibst zum Essen hier. Ich will sehen, wie du das isst."
Wenn ich etwas nicht mochte oder es meinem Vater nicht schnell genug ging, fing er an, mich zu füttern. Und zwar so, wie es ihm passte. Er stopfte meinen Mund voll mit Essen, bis ich kaum noch kauen konnte. Mit Tränen in den Augen saß ich da, bis – manchmal nach Stunden erst – der Teller endlich leer war.
Dann durfte ich gehen und mich in meinem Zimmer allein trösten – mit Süßigkeiten und Erdnussflips.
Die Süße oder Salzige in meinem Mund. Das wohlige Gefühl, das sich in meinem malträtierten Magen ausbreitete. Die fettig glänzenden Finger, die ich genüsslich abschlecken konnte. Das waren mit die schönsten Momente zu Hause.
Jedes Mal, wenn meine Mutter vom Einkaufen zurückkam, freute ich mich auf die Überraschungen, die sie mitbrachte. Dann schnappte ich mir glücklich die Packung Schokoriegel und verzog mich in mein Zimmer. Essen war nicht nur Genuss. Essen war Liebe.
Und dann musste ich lernen, meine Liebe vor anderen zu verstecken. "Du kannst nicht immer nur Pommes essen", sagten die Eltern meiner Freunde abfällig zu mir. Später auch machten sich meine Freunde über mich lustig: "Du magst doch eh nur Fischstäbchen." Also habe ich versucht, den Urteilen zu entkommen, und lieber allein gegessen. Je trauriger ich war, umso mehr habe ich gegessen.
Und dann habe ich gespürt, wie mein Körper sich verändert: Ich wurde runder, weiblicher. Ich war niemals dick – aber ich hatte Hüften, stramme Oberschenkel, einen runden Po. Alle anderen Mädchen in meiner Klasse waren eher knabenhaft. Mein Körper fühlte sich nicht richtig an. Seitdem ich zwölf war, wollte ich abnehmen. Aber wie sollte das funktionieren, wenn alles, was ich gern aß, dick machte?
Ich fing an, mehr Sport zu machen. Jeden Tag mindesten 100 Situps, Kniebeuge, Liegestütze. Mit 15 probierte ich eine Diät aus – mit viel rohem Gemüse, weil ich kein gekochtes essen wollte. Ich aß so viele Karotten, dass mir übel wurde von der ungewohnten Menge an Rohkost und ich nachts aufwachte, weil ich mich übergeben musste. Ich träumte von Duplo-Riegeln, die ich unkontrolliert in mich reinstopfte – und wachte auf, um unkontrolliert Duplo-Riegel in mich reinzustopfen.
Es war bahnbrechend, als ich lernte, zu kotzen.
Es fiel mir nicht leicht, mich auf Kommando zu übergeben. Ich musste lange Zeit üben, bis ich das konnte. Aber irgendwann wusste ich, wie und was ich essen muss, um es hinterher wieder schnell loswerden zu können. Laut- und spurenlos. Erst unregelmäßig, anfangs war es eher ein Experiment, was mein Körper kann. Dann regelmäßig. Dann mehrmals täglich.
Bulimie ist eine ekelhafte Krankheit. Ekel vor mir selbst brachte mich dazu, etwas Ekliges zu tun. Was ich tat, habe ich selbst entschieden. Was eklig ist, habe ich allerdings von anderen gelernt. Und meine Lehrer haben wahrscheinlich nicht gemerkt, dass sie meine Lehrer sind – weil sie es immer gut mit mir meinten.
Bulimie ist eine heimliche Krankheit. Wir glauben immer, sehen zu können, wenn jemand eine Essstörung hat. Wir haben Bilder vor Augen von ausgemergelten Mädchen, die aussehen wollen wie Supermodels. Aber Bulimie kann auch das nette Mädchen mit den stämmigen Waden haben. Und dann merken wir nicht, wie sehr wir ihr mit unseren Kommentaren über ihr Essverhalten wehtun.
Bulimie ist eine unkontrollierbare Krankheit. Ich dachte, ich fresse und kotze, weil ich so meinen Körper kontrollieren konnte. Aber ich hatte die Kontrolle verloren. Und lange Zeit war es schwierig, sie wiederzugewinnen: Denn wie sollte ich mit Menschen über mein peinliches Essverhalten sprechen? Wie über mein Verlangen, mich zu übergeben? Wie konnte ich überhaupt wieder mit anderen Menschen gemeinsam essen? Denn mein Essverhalten isolierte mich – und Isolation begünstigt den Kontrollverlust.
Erst später, als Erwachsene, lernte ich, gemeinsam mit anderen Menschen Freunde am Essen zu finden. Ich erinnere mich an einen besonderen Moment mit einer Freundin, die den Moment wahrscheinlich als ganz alltäglich empfand: Wir kochten zusammen Nudeln. Sie bot an, dass wir gemeinsam eine Gemüsesoße machen.
Ich habe mich nicht getraut, ihr zu sagen, dass ich normalerweise nur Tomatensoße esse, ohne Gemüse drin. Wir kannten uns noch nicht so gut. Aber sie war so entspannt und verhielt sich so selbstverständlich, wählte größtenteils Gemüse aus, das ich kannte, wie Karotten oder Paprika. Und schwärmte gleichzeitig von Zucchini – was ich bis dato noch nie gegessen hatte.
Wir kochten gemeinsam. Und aßen gemeinsam. Und es schmeckte. Und ich musste mich nicht übergeben.
Was war nun so anders? Ich glaube, es hat mir gut getan, dass mir das Essen nicht einfach vor die Nase gesetzt wurde und ich dankbar dafür sein musste, egal ob ich es mag oder nicht. Wir haben gemeinsam beschlossen, zu essen, und überlegt was – ohne zu stark von dem abzuweichen, was ich bis dahin kannte. Ich hatte Kontrolle. Aber diesmal eine echte.
Es klingt banal. Aber zu lernen, dass ich gekochtes Gemüse essen kann, bot mir auf einmal Möglichkeiten für so viel mehr. Mit der Zeit wurde ich neugieriger. Ich fing an, zu experimentieren: Wie schmeckt eigentlich Kürbis? Was ist Haloumi? Gibt es vielleicht einen Salat, den auch ich mag?
Dieser ganze Prozess hat Jahre gedauert. Mittlerweile koche ich allerdings sehr gerne und vielseitig. Und bin besonders stolz, wenn ich etwas mag, was andere nicht mögen – weil das etwas ist, das es jahrelang nicht gab.
Gleichzeitig habe ich eine Therapie gemacht, die mir vor Augen führte, welche Auswirkung mein Essverhalten auf mich hat. Wie nervös mich das Thema Ernährung macht. Das ist immer noch nicht ganz weg. Wenn ich mich schlecht fühle, will ich immer noch schlecht essen – und am liebsten in Massen. Aber ich verstehe nun besser, was in mir vorgeht. Ich kann die Essanfälle besser umschiffen und Kompromisse mit mir selbst schließen. Wenn ich Pommes essen will, gibt es eben Salat dazu. Das ist vielleicht nicht unbefangen, aber ich schade mir selbst zumindest nicht.
Und manchmal habe ich eben eine Essattacke. Ich lerne immer noch, mir selbst dafür zu verzeihen und mir zu sagen: Das war eine Ausnahme, das war in Ordnung. Du bist nicht, was du isst.
Ich würde mir wünschen, dass wir anderen Menschen nicht so stark auf den Teller schauen. Am Ende ist Essen schließlich Geschmackssache, und jeder muss schauen, was er selbst am liebsten mag, was ihm gut tut, wie experimentierfreudig er ist. Ich glaube, Geschmack muss erlernt werden, und da hat jeder seinen eigenen Weg und braucht seine eigene Zeit.
Mir hat es immer sehr weh getan, von meinen Eltern, meinen Freunden oder deren Eltern abfällige Kommentare über mein Essverhalten zu hören. Das hat meine Essstörung zwar nicht ausgelöst, aber begünstigt.
Und gleichzeitig waren es am Ende auch meine Freunde, die mir geholfen haben. Die Freundin, mit der ich gemeinsam gekocht habe. Der Freund, der gerne mit mir neue Gerichte ausprobiert. Mein Partner, der sich freut, wenn ich etwas für ihn koche, was er vielleicht noch nicht kennt.
Diese Menschen haben mir geholfen, weil sie mich nicht bewertet oder gar verurteilt haben in meinem Essverhalten. Und weil mir das so viel Vertrauen gegeben hat, dass ich irgendwann über meine Probleme sprechen konnte.
Lasst uns also versuchen, anderen das Essen nicht zu vermiesen.
Protokoll: Agatha Kremplewski