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Virologe Hendrik Streeck zieht Corona-Bilanz: "Von den Toten lernen"

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Hendrik Streeck ist seit Corona einer der bekanntesten Virologen des Landes. Bild: dpa / Fabian Sommer
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Hendrik Streeck über die Pandemie: "Wir können und sollten von den Toten lernen"

21.04.2023, 14:54
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Die Pandemie ist vorbei, die Aufarbeitung noch lange nicht: Zwar sind die letzten Corona-Maßnahmen Anfang April gefallen, doch für die Wissenschaft sind noch längst nicht alle Schlüsse gezogen.

Zusammen mit anderen Wissenschaftler:innen veröffentlichte der Virologe Hendrik Streeck erst kürzlich eine neue Studie im Fachjournal "Nature" zur Sterblichkeitsrate bei einer Infektion mit dem Coronavirus.

Watson hat mit dem Infektionsepidemiologen über die Genauigkeit wissenschaftlicher Studien, die Zeit als wichtigen Faktor und darüber, was wir von den Toten dieser Pandemie lernen sollten, gesprochen.

Watson: Herr Streeck, Ihre aktuelle Studie ist nicht die erste zur Sterblichkeitsrate bei einer Infektion mit dem Coronavirus.

Hendrik Streeck: Wir haben zu Beginn der Pandemie, also vor über drei Jahren, in Heinsberg die ersten Studien zur Corona-Infektion, zu Übertragungswegen und Symptomatik durchgeführt. Eine unserer Fragen war, wie viele symptomatische oder asymptomatische Infektionen es gibt und wie gefährlich das Virus für welche Altersgruppen ist. Wir wollten damit die Infektionssterblichkeit des neuen Coronavirus verstehen.

"Im Nachgang kamen Fragen auf, beispielsweise, ob denn überhaupt alle Toten erfasst wurden."

Warum brauchte es dann jetzt noch eine Studie dazu?

Im Nachgang kamen dann Fragen auf, beispielsweise, ob denn überhaupt alle Toten erfasst wurden. Wir hatten damals eine Sterblichkeitsrate von rund 0,36 mit einem Schwankungsbereich von 0,17 Prozent bis 0,77 Prozent bestimmt. Die Fragestellung war: Waren alle Verstorbenen auf Corona getestet oder gab es Personen, die gestorben waren, ohne dass getestet wurde? Für uns tauchte noch ein weiteres Problem auf, die Frage nach der Zeit. In welchen Zeitraum nach einer Infektion kann man sagen, dass jemand direkt an den Folgen der Corona-Infektion gestorben ist? Und ab wann ist eher ein anderer Grund anzunehmen? Gerade bei älteren Menschen sind die Gründe meistens vielfältig, da häufig viele Erkrankungen zusammenkommen.

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Hendrik Streek war Mitglied des Expert:innenrates der Bundesregierung und ist Direktor der Virologie an der Uni Bonn.Bild: dpa / Rolf Vennenbernd

Um die Zeitproblematik etwas salopper zu beschreiben: Wenn man die Zeit nicht als Faktor mit einschließt, werden wir, übertrieben gesagt, alle irgendwann mit Corona gestorben sein, wenn wir mal positiv getestet wurden. Daher ist die Frage nach der Länge des Beobachtungszeitraums entscheidend für so eine Studie.

Wie sind Sie vorgegangen, um das herauszufinden?

Für die aktuelle Studie haben wir alle Totenscheine aus einem bestimmten Zeitraum angefordert und analysiert. Das war kein leichtes Unterfangen, da dies im Grunde handschriftliche Arztnotizen sind, die aufgrund der medizinischen Abkürzungen meistens auch nur durch einen Arzt entziffert werden können. So konnten wir die Todesursachen festhalten und die Daten mit den epidemiologischen, klinischen und infektiologischen Daten sowie mit den Ergebnissen aus den PCR-Tests zusammenbringen.

"Uns ging es genau darum: die Zeit als Fehlerkomponente aufzuzeigen."

Auf dieser Basis haben wir dann die Infektionssterblichkeit neu berechnet und in zeitliche Abhängigkeit gesetzt. Wir haben damit gezeigt, dass wir zum einen damals keine Covid-19-Todesfälle übersehen hatten. Zum anderen haben wir gezeigt, dass der Zeitfaktor ab einem gewissen Punkt die Daten schwammig werden lässt: Mit einem längeren Zeitraum würde man auch nicht an SARS-CoV2 Verstorbene in der Berechnung miterfassen. Im Grunde zeigt die Studie, dass man bei solchen Studien immer den Beobachtungszeitraum in der Interpretation mit einbeziehen und in der Publikation beschreiben muss.

Sie haben in Ihrer Studie herausgefunden, dass ein Drittel der Todesfälle nicht auf Corona zurückzuführen war, zwei Drittel aber schon?

Das stimmt so nicht, denn unsere Fragestellung war eine andere: Wir zeigen, dass im untersuchten Zeitraum Personen auch aus anderen Gründen gestorben sind, die in den Wochen oder Monaten zuvor einmal einen positiven PCR-Test hatten. Da sind Menschen dabei, die zum Beispiel nach über 180 Tagen nach einem positiven PCR-Test gestorben sind, aber der Grund des Todes ein anderer war. Man sieht einen deutlichen Unterschied, ob die Infektion in den letzten 60 Tagen stattgefunden hat oder noch länger her ist. Uns ging es genau darum: die Zeit als Fehlerkomponente aufzuzeigen.

Das heißt, wenn die Infizierten über einen bestimmten Zeitraum hinaus erst gestorben sind, also sagen wir 100 Tage nach dem festgestellten Infekt, war das wahrscheinlich nicht mehr die Todesursache?

Genau. Diese Zeitkomponente ist wichtig, um etwas über die Sterblichkeit zu sagen. Und dass man nicht sagen kann, dass Corona ein halbes Jahr nach der Infektion noch die Todesursache sein kann. Ich möchte aber auch betonen, dass es hier um Wahrscheinlichkeiten geht. Es gibt sehr wohl Menschen, die auch ein halbes oder ein Jahr später an den Folgen der Infektion versterben.

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Was sollten wir für Schlüsse aus den Ergebnissen dieser Studie ziehen?

Für mich sind ein paar Punkte wichtig: Wissenschaft beinhaltet immer Graubereiche, wir können nie eine Punktlandung machen. Das wird von Wissenschaftsinteressierten und Laien häufig falsch verstanden. Wir haben immer ein Konfidenzintervall, einen Bereich, in dem wir nicht genau sagen können, was der exakte Wert ist. Dieser Wert ist zudem abhängig von vielen unterschiedlichen Faktoren. Nicht zuletzt vom Alter der Bevölkerung, wie es andere Studien sehr deutlich gezeigt haben. Die Sterblichkeitsrate, die wir zu Beginn der Pandemie bestimmt haben, fällt aber auch nach der Analyse der Totenscheine immer noch in diesen Graubereich.

"Es handelt sich bei SARS-CoV2 um ein ernstzunehmendes Virus mit einer deutlich höheren Sterblichkeitsrate als die saisonale Grippe."

Je nach Zeitfaktor variiert die Infektionssterblichkeit zwischen 0,37 bis 0,62 plus Konfidenzintervall. Das zeigt wieder einmal deutlich: Ja, es handelt sich bei SARS-CoV2 um ein ernstzunehmendes Virus mit einer deutlich höheren Sterblichkeitsrate als die saisonale Grippe. Aber es ist nicht Ebola, wie es manchmal gesagt wurde.

Gab es noch weitere Erkenntnisse?

Ein anderer wichtiger Punkt ist, die Bedeutung der Obduktion gerade auch bei solchen Fragestellungen hervorzuheben. Wir können und sollten von den Toten lernen. In Thailand werden Menschen, die ihren Körper für die Medizin und Forschung zur Verfügung stellen, geehrt und als Lehrmeister des Lebens gewürdigt. Das hilft, Leben zu retten! Hierzu gehört, dass auch die Erfassung der Totenscheine besser werden muss. Wenn man sich einmal mit diesen handschriftlichen Aufzeichnungen beschäftigt hat, sieht man, dass hier eine Digitalisierung dringend notwendig ist.

Wenn man jetzt Long Covid als Faktor mit einbezieht: Zählen auch diese Menschen zu den "mit Corona Verstorbenen", beispielsweise durch körperliche Langzeitschäden, oder auch durch Suizid, weil ihnen nicht geholfen werden konnte? Vor dieser Gefahr warnen Betroffene ja ...

Natürlich, gerade epidemiologische Studien sind immer Momentaufnahmen und man kann mit einer einzigen Studie nicht alle Fragen beantworten. Die Problematik dabei ist, dass wir natürlich die Auswirkungen von Long Covid nicht miterfasst haben. Diese Frage hatte sich im März 2020 aber noch nicht gestellt. Für die Todesfälle, die wir in unserem Erfassungszeitraum hatten, können wir aber eigentlich mit Sicherheit sagen, dass Long Covid nicht ursächlich ist.

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Die Begriffe Vogelgrippe und Geflügelpest sind in Deutschland schon lange nicht mehr neu. Über Wildvögel aus dem südostasiatischen Raum gelangte das Virus laut Friedrich-Loeffler-Institut bereits 2004 auf den europäischen Kontinent, meist im Winter wurden Ausbreitungen regelmäßig etwa aus deutschen Zoos oder Geflügelfarmen gemeldet.

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