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Was ist dran an Einzelkind-Klischees? Eine Familientherapeutin klärt auf

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Einzelkinder müssen die Ressourcen ihrer Eltern nicht mit den Geschwistern teilen. Bild: Getty Images / Vasyl Dolmatov
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Egoistisch und verwöhnt: Was ist dran an Einzelkind-Klischees? Eine Familientherapeutin klärt auf

01.05.2021, 14:02
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Deine Freundin nimmt sich immer das letzte Stück Pizza und das WG-Bad stellt sie hemmungslos mit ihren eigenen Cremetuben zu – typisch Einzelkind, oder?! Menschen ohne Geschwister kennen die alten Klischees nur zu gut, dabei sind sie schon lange keine Rarität mehr: Etwa jedes vierte Kind in Deutschland wächst laut Statistischem Bundesamt inzwischen ohne Geschwister auf.

Dadurch bleibt ihnen vieles erspart – blaue Flecken durch den großen Bruder und ein geteiltes Zimmer zum Beispiel. Sie müssen aber auch auf vieles verzichten, sei es nur ein Spielpartner auf der langen Autofahrt in den Urlaub.

Was ist also dran am Mythos Einzelkind? Welche Vor- und Nachteile erleben sie in der Kindheit und welche Sorgen kommen als Erwachsene auf Einzelkinder zu? Für watson sprachen wir darüber mit Luciana Obermann. Sie arbeitet als Paar- und Familientherapeutin in Kiel.

Familientherapeutin Luciana Obermann aus Kiel
Therapeutin Luciana ObermannBild: SoulPicture / Marcel Völker

Sie sagt:

"Tatsächlich fällt es Einzelkindern sogar leichter zu teilen, weil sie es nicht so oft müssen."

watson: "Typisch Einzelkind“ wird immer mal gesagt, wenn jemand – selbst als Erwachsener – nicht teilen möchte. Woher kommt dieses Klischee?

Luciana Obermann: Das Klischee stammt noch aus einer Zeit, als Großfamilien die Regel waren, also zum Ende des 19. Jahrhunderts. Einzelkinder waren eine Rarität und häufig eher auf Erwachsene fokussiert. Diese Sozialisationsbesonderheit brachte dann altkluge, wunderliche oder verwöhnte Kinder, aber auch welche mit wirklichen sozialen Beeinträchtigungen hervor, besonders, wenn sie aus schwierigen Familiensituationen kamen.

Heutzutage gilt das also nicht mehr?

Nein. Einzelkind zu sein, ist nichts Besonderes mehr und wir haben unsere Gesellschaftsstruktur entsprechend angepasst, gehen auf die Bedürfnisse von Einzelkindern ein, beispielsweise durch Sport- und Krabbelgruppen für Kleinkinder. Studien haben nicht belegen können, dass es große Unterschiede von Einzelkindern zu gleichaltrigen Geschwisterkindern im Sozialverhalten gibt. Tatsächlich fällt es Einzelkindern sogar leichter, zu teilen, weil sie es nicht so oft müssen. Sie sind außerdem eher bereit, Verantwortung zu übernehmen, weil sie niemanden haben, auf den sie die Schuld schieben können und sie sind schneller bereit, eine Vermittlerrolle einzunehmen.

"Sie müssen sich nicht permanent mit anderen messen und vergleichen lassen."

Welche Vorteile haben Einzelkinder denn in der Kindheit?

Insbesondere für Einzelkinder aus intakten Familien kann ihr Alleinstatus ein großer Vorteil sein. Sie müssen sich nicht permanent mit anderen messen und vergleichen lassen. Die Liebe und Aufmerksamkeit der Eltern ist ungeteilt. Ein Kind, das allein aufwächst, hat schon vom Zeitkontingent her die Chance, eine deutlich intensivere Beziehung zu seinen Eltern aufzubauen. Sobald Geschwister hinzukommen, nimmt die Aufmerksamkeit zwangsläufig ab, da die Zeitressourcen geteilt werden müssen.

Hilft diese Aufmerksamkeit auch im schulischen Bereich?

Ja, Studien haben gezeigt, dass Einzelkinder erfolgreicher sind. Sie nehmen häufiger Führungspositionen ein und haben im Schnitt höhere Bildungsabschlüsse. Das liegt daran, dass Einzelkindern mehr Förderung zukommt und Probleme in der Schule rechtzeitiger erkannt werden. Außerdem ist es eher möglich, besondere Hobbys zu unterstützen und zu fördern als bei Mehrkindhaushalten, in denen die finanziellen Ressourcen geteilt werden müssen.

Gibt es auch Nachteile?

Wenn Eltern wenig Zeit haben, wenn zum Beispiel beide Vollzeit arbeiten und auch sonst wenig Familienanschluss besteht, kann es schon passieren, dass sich ein Einzelkind sehr einsam fühlt. Es herrscht dann eine permanente Sehnsucht nach den Eltern und generell nach Bindungspersonen. Umso wichtiger ist eine Anbindung an Gleichaltrige und die Unterstützung von Freundschaften. Diese Freundschaften bekommen dann mitunter so eine Wichtigkeit, dass der Druck groß wird, beliebt zu sein und gemocht zu werden.

"Einzelkinder haben einfach weniger Erfahrung bei Auseinandersetzungen mit Gleichaltrigen."

Trifft Mobbing Einzelkinder dann besonders hart?

Mir sind dazu keine Studien bekannt. Aber ich könnte mir gut vorstellen, dass es in Mobbingsituationen tatsächlich hilfreich ist, Geschwister zu haben. Erstens lernen Geschwisterkinder früher Bewältigungsstrategien in Bezug auf Ablehnung, zweitens ist der Geschwisterzusammenhalt nach außen oft groß, man hätte also einen Verteidiger. Einzelkinder haben einfach weniger Erfahrung bei Auseinandersetzungen mit Gleichaltrigen.

Suchen sich Einzelkinder denn Geschwister-Ersatz, haben besonders enge und lange Freundschaften?

Wenn Einzelkinder das Glück haben, in einer Umgebung aufzuwachsen, in der es viele Kinder gibt, haben sie die Chance, sich „Ersatzgeschwister“ zu suchen. Der Vorteil daran ist, sie können Zeit mit diesen verbringen, müssen es aber nicht. Manchmal suchen sich Einzelkinder auch Kinder, die etwas älter sind, als Orientierung. Manchmal wird die babysittende Nachbarin so zur älteren Langzeitersatzschwester.

Ist es demnach wichtig, Einzelkinder früh mit anderen Kindern in Kontakt zu bringen?

Kinder profitieren vor allem im sozialen Lernen ungemein voneinander. In der Krabbelgruppe, auf dem Spielplatz und in der Kita lernen sie ihre ersten außerfamiliären Interaktionspartner kennen und können Freundschaften knüpfen. Über diese Freundschaften haben die Kinder Einblick in andere familiäre Lebensentwürfe, was den Horizont öffnet. Das ist für jedes Kind wichtig, bietet dem Einzelkind aber zusätzlich die Gelegenheit, sich von möglicherweise zu sehr klammernden Eltern zu emanzipieren.

Stehen Einzelkinder unter einem anderen Leistungsdruck als Geschwister?

Einzelkinder erhalten mehr Förderung als Geschwisterkinder und stehen mit ihren Talenten und Kompetenzen stets im Mittelpunkt der elterlichen Aufmerksamkeit. Sie neigen eher dazu, den Eltern gerecht werden zu wollen und überfordern sich schnell dabei. Eine klassische Überforderungssituation kann die des Erbberufs sein: Wenn ein Elternteil beispielsweise Jurist mit einer eigenen Kanzlei ist, wird das Kind zum beruflichen Alleinerben und möglicherweise eher dazu angehalten, auch Jura zu studieren, obwohl seine Talente eher im musischen Bereich liegen.

Und wenn das Kind dennoch seinen eigenen Weg geht?

Auch Einzelkinder, die eigene berufliche Wege einschlagen, neigen zu einem hohen Leistungsniveau. Sie sind es eher gewohnt, dass Erfolge durch die Eltern kommentiert werden und fühlen sich besonders wertgeschätzt. Diese Wertschätzung versuchen sie auch im Berufsleben zu generieren. Gepaart mit dem Wunsch, bei anderen Anklang zu finden und geschätzt zu werden, kann Leistung schnell zur Sucht werden.

"Geschwisterzusammenhalt kann in der Krise also tatsächlich vor psychischen Schäden schützen."

Geschwister tröstet oft, dass jemand anderes alle Marotten meiner Familie unbeschrieben kennt. Fehlen Einzelkindern diese "Partner in Crime" im Leben?

Wenn ein Kind ein intaktes soziales Umfeld hat, fehlen diese "Partner in Crime" nicht zwangsläufig. Auch Geschwister können Eltern sehr unterschiedlich wahrnehmen. Im dysfunktionalen Kontext, also in Familien, in denen Gewalt herrscht, eine Sucht- oder psychische Erkrankung vorliegt oder bei Trennung der Eltern können Geschwister aber Resilienzfaktoren sein, das erlebe ich in meiner Arbeit für die Jugendhilfe. Einzelkinder haben es hier deutlich schwerer, sind mit Familien-Problemen häufiger alleine und die Hürde ist groß, sich vor anderen zu öffnen. Geschwisterzusammenhalt kann in der Krise also tatsächlich vor psychischen Schäden schützen.

Gilt das auch für die Corona-Krise?

Ja. Auch in Corona-Pandemie und Lockdown-Zeiten sind Geschwisterkinder, vor allem wenn der Altersunterschied nicht allzu groß ist, ein echter Gewinn und Vorteil. Andere Kinder im eigenen Haushalt zu haben, gleicht die Kontaktbeschränkungen ein Stück weit aus.

Welche Sorgen von erwachsenen Einzelkindern sind typisch?

Die amerikanischen Professorinnen Lisen Roberts und Priscilla Blanton White haben erwachsene Einzelkinder zwischen 20 und 29 Jahren nach Für und Wider ihrer Geschwisterlosigkeit befragt und welche Sorgen sich nun im erwachsenen Leben zeigen. Dabei ging es sehr oft um die alleinige finanzielle und pflegerische Verantwortung gegenüber den alternden Eltern.

Haben Einzelkinder auch das Gefühl, ein Enkelkind "machen zu müssen"?

Der Druck, ein Enkelkind zu machen, rückt im Zeitalter der sexuellen Emanzipation und Geschlechterdiversität auch für die älteren Generationen mehr in den Hintergrund, aber es ist sicherlich noch ein Aspekt. Was ich allerdings in meiner täglichen Praxis oft beobachte, ist, dass Eltern von Einzelkindern den zukünftigen Schwiegerkindern häufig viel mehr Beachtung schenken, sowohl positiv als auch negativ.

"Der Partner eines Einzelkindes wird ganz genau beäugt – da gibt es eben nur dieses eine Schwiegerkind."

Wie meinen Sie das?

Bei mehreren Geschwistern rutscht ein unbeliebter Schwiegersohn auch einfach mal durch, da findet man sich beispielsweise eher mit "diesem Vegetarier" ab, weil es ja noch andere gibt, die den Gänsebraten mitessen. Aber der Partner eines Einzelkindes wird ganz genau beäugt – da gibt es eben nur dieses eine Schwiegerkind.

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