Auf die Frage, wie meine Mutter meinen Vater kennengelernt hat, hat sie immer kurz und knapp geantwortet: Sie trafen sich auf der Silvesterparty einer gemeinsamen Freundin in Polen, wo meine Eltern herkommen. Sie kannten sich etwa ein Jahr lang, bevor sie geheiratet haben. Bei der Hochzeit war meine Mutter bereits mit mir schwanger. Das war am 2. Januar 1987 in Duisburg.
Lange Zeit habe ich das Kennenlernen meiner Eltern nicht hinterfragt. Dann, irgendwann vor ein paar Jahren, ist mir die Geschichte wieder eingefallen, völlig zufällig. Und dabei wurde mir erst klar, wie unlogisch sie ist:
Denn mein Vater hatte Polen bereits 1978 verlassen und lebte seit 1981 in Westdeutschland. Wenn es stimmt, dass er meine Mutter auf einer Party ein Jahr vor ihrer Hochzeit 1987 getroffen hat, hätte er dafür nach Polen einreisen müssen. Und wer im Geschichtsunterricht aufgepasst hat, weiß: Polen war bis 1989 kein Land, aus dem man einfach aus- und wieder einreisen konnte, sondern stand unter dem Einflussbereich der Sowjetunion und war von der westlichen Welt isoliert.
Das alles schien mir, die ich den Großteil meiner Kindheit in Düsseldorf verbracht habe, weit weg. Alles, was ich für selbstverständlich hielt, war westlich – von amerikanischer Popmusik bis Demokratie. Dass meine Eltern damit nicht aufgewachsen waren und mit welchen Strapazen sowie Ungereimtheiten ihre Auswanderung nach Westdeutschland verbunden gewesen sein muss – das war mir lange Zeit nicht bewusst.
Ich rief meine Mutter schließlich an, um zu fragen: Was ist eigentlich passiert? Wie bist du nach Deutschland gekommen? Und warum? Sie erzählt:
Damals, in den 1980er Jahren in Warschau, hat meine Mutter im Bildungsministerium gearbeitet. Das politische Klima war angespannt, die Bevölkerung versuchte immer wieder, sich gegen die sowjetische Herrschaft zu wehren – meine Mutter erinnert sich, wie eines Tages im Jahr 1980 die Panzer vor ihr Büro im Ministerium rollten. Das war beängstigend – schlimmer fand sie allerdings, dass es mit der Liebe einfach nicht klappen wollte. Ein sonderlich politischer Mensch ist meine Mutter noch nie gewesen.
Eine langjährige Affäre mit einem Mediziner endete recht dramatisch. Anfang 30-jährig, als kinderlose und alleinstehende Frau, galt meine Mutter im Polen der 80er Jahre fast schon als alte Jungfer. Doch eine Freundin wusste die Lösung: "Ella, erinnerst du dich noch an Pawel?", fragte sie meine Mutter. "Der lebt mittlerweile in Deutschland und ist auch noch Single."
Meine Mutter dachte zurück an den blonden Mann mit dem langen Bart, den sie zehn Jahre zuvor auf einer Silvesterparty gesehen hatte. Damals war er mit seiner Freundin da gewesen, offenbar war die nicht mehr aktuell. Wirklich attraktiv fand meine Mutter Pawel damals nicht. Aber ganz lustig.
Die gemeinsame Freundin gab Pawel die Telefonnummer meiner Mutter – und er meldete sich tatsächlich gleich am ersten Abend. Die Gespräche waren angenehm, über dies und das. Sie mochte seinen Sinn für Humor. Verliebt war meine Mutter aber nicht, als er sie nach sechs Monaten fragte: "Willst du zu mir nach Westdeutschland kommen – und meine Frau werden?"
Den Westen kannte meine Mutter vor allem von den US-amerikanischen Shops, die es vereinzelt in Warschau gab und in denen man nur mit Dollars eine heißbegehrte Jeans oder Süßigkeiten kaufen konnte. Dollars bekam man gegen 100 Zloty auf dem Schwarzmarkt – oder wenn man glücklicherweise Verwandte im Ausland hatte, die einem welche schicken konnten. Von Westdeutschland hatte sie gar keine Vorstellung. Sie sprach nicht einmal Deutsch, die fremde Sprache klang für sie kalt und unfreundlich.
Trotzdem war der Entschluss gefasst: Meine Mutter würde in den Westen gehen. Pawel musste sie dafür offiziell einladen. Dann reichte sie einen vierwöchigen Urlaub bei ihrem Arbeitgeber ein. Weil mein Opa damals Offizier beim Militär war, wurde meine Mutter vom Staat zu mehreren Befragungen einberufen, bevor sie ausreisen durfte: Was der Grund ihrer Reise sei, wen sie da treffe... Nach zwei bis drei Monaten hatte sie aber das Visum in der Hand und Pawel kaufte ihr ein Flugticket.
"Ich wusste, ich habe dann einen Monat Zeit, um mich zu entscheiden: Will ich in Deutschland bleiben und mit diesem Mann eine Familie gründen – oder fliege ich heim und kehre vermutlich nie wieder zurück", sagt meine Mutter. Denn wäre sie nach vier Wochen, wie offiziell angegeben, nach Polen zurückgeflogen, hätte es mindestens Jahre gedauert, um ein weiteres Visum zu bekommen und Pawel noch einmal zu treffen. Viel Zeit zum Überlegen blieb also nicht.
Vorsorglich gab meine Mutter ihren Eltern eine Vollmacht über ihre Wohnung. Gab ihren russischen Windhund zu einem Bauern aufs Land. Packte das Nötigste ein. Und machte sich auf zum Flieger.
Am 24. Juli 1986 landete meiner Mutter mit einer kleinen Propellermaschine am Frankfurter Flughafen, wo Pawel sie abholte.
Wer es sich noch nicht gedacht hat: Pawel wurde mein Vater. Meine Mutter ist geblieben – bis heute.
Ganz ehrlich: Für mich, die ja nun das Produkt dieser Lebensentscheidung ist, klingt das nach absolutem Irrsinn. In ein fremdes Land reisen, um dort einen praktisch fremden Mann zu treffen, sich innerhalb von vier Wochen entscheiden, ob man für immer oder zumindest eine lange Zeit da bleiben will, fix heiraten, ein Kind kriegen – wer macht sowas heutzutage?
Wahrscheinlich jemand, der nicht mit so viele Freiheiten aufgewachsen ist, wie wir es im heutigen Westen tun. Wenn ich meine Mutter frage, was sie zu ihrer Entscheidung bewogen hat, sagt sie: "Ich wollte Kinder. Und ich habe die Option auf Familie in Warschau einfach nicht mehr gesehen."
Für ihren Kinderwunsch hat sie vieles in Kauf genommen. Der Umzug in ein fremdes Land, in dem sie immerhin eine Wohnung mieten konnte, wo sie wollte, und in dem sie im Supermarkt mit Geld anstatt Lebensmittelmarken bezahlte. Der Asylantrag und die Aufenthaltsgenehmigung, die lange Zeit immer nur um ein Jahr verlängert werden konnte. Die wiederholten Befragungen ihrer Eltern durch den polnischen Staat, der wissen wollte, was aus meiner Mutter geworden ist – und ob sie vielleicht Spionin werden könnte. Mein Opa behauptete, kaum Kontakt zu ihr zu haben.
Eine Erfolgsgeschichte war die Ehe meiner Eltern übrigens nicht. Es wäre jetzt natürlich perfekt, wenn ich sagen könnte, meine Eltern waren Hals über Kopf verliebt und sind auch heute noch zusammen. Aber schon nach wenigen Monaten stellte sich heraus: So richtig gern hatten sich die beiden doch nicht, die Ehe war bis zum Tod meines Vaters schwierig. Aber ein Zurück hat es eben nicht gegeben.
Hätte meine Mutter es trotzdem gemacht, wenn sie gewusst hätte, wie schwierig es wird? "Klar", sagt sie und lacht. "Sonst hätte es dich ja nicht gegeben."