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WM 2022: Warum bei Stars nach Niederlagen Tränen fließen – Psychologe klärt auf

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Joshua Kimmich fürchtet nach dem erneuten Scheitern mit der DFB-Elf in ein mentales Loch zu fallen. Bild: www.imago-images.de / imago images
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WM 2022: Wieso Top-Stars mit Niederlagen nicht umgehen können und "Verdrängungs-Weltmeister" sind

15.12.2022, 12:2015.12.2022, 14:34
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Cristiano Ronaldo weinte bitterliche Tränen und verschwand mit Abpfiff sofort in der Umkleidekabine. Neymar blickte gedankenverloren auf die Fans im Stadion, während ihm die Tränen die Wange herunterliefen. Luka Modrić wischte sich Schweiß oder vielleicht auch eine Träne bei seiner Auswechslung bei der 0:3-Halbfinal-Niederlage gegen Argentinien aus dem Gesicht. Und auch die Spanier waren nach der Niederlage gegen Marokko untröstlich.

Für die Superstars zerplatzte mit dem Abpfiff des Schiedsrichters ihr wohl größter Traum: der Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft. Für andere Nationen und Stars wie Deutschland oder Belgien endete dieser Traum schon mit dem Aus in der Gruppenphase.

Manche Spieler können an dieser für sie schmerzhaften Niederlage zerbrechen und finden nie wieder zu ihrer ursprünglichen Leistungsstärke zurück.

Sportpsychologe René Paasch wundert das nicht. "Häufig haben diese Top-Sportler Schwierigkeiten, wenn sie nicht funktionieren. Sie definieren sich über ihre Leistung und Erfolge. Wenn sie die nicht bringen, wissen sie zum Teil nicht, wie sie damit umgehen können", sagt er im Gespräch mit watson.

"Es wird ganz häufig davon ausgegangen, dass wir mit Spielern über glühende Kohlen laufen und sie starkreden."
Sportpsychologe René Paasch

WM 2022: Kimmich hat nie am Umgang mit Misserfolg gearbeitet

Besonders deutlich wurde das bei Joshua Kimmich nach dem erneuten Vorrunden-Aus des DFB-Teams. "Ich habe echt Angst, in ein Loch zu fallen", gab er offen zu und bezeichnete den Tag des Ausscheidens als "schlimmsten seiner Karriere."

Seit Kimmich beim DFB-Team ist, kam die Mannschaft 2016 noch ins Halbfinale, anschließend folgte das Vorrunden-Aus bei der WM 2018, das Achtelfinal-Aus bei der EM im vergangenen Jahr und nun das erneute Scheitern in der Gruppenphase.

"Das ist für mich schon nicht einfach zu verkraften, weil ich persönlich mit dem Misserfolg in Verbindung gebracht werde", sagte Kimmich.

Denn der 26-Jährige kennt nach Dauer-Meisterschaften, DFB-Pokal und Champions-League-Siegen mit dem FC Bayern eigentlich nur den Erfolg. Doch genau dort passieren bekanntlich die meisten Fehler.

"In so einer Phase sind Menschen Verdrängungsweltmeister", erklärt Paasch, der bereits mit zahlreichen Bundesliga-Profis und Klubs gearbeitet hat. "Dadurch, dass Kimmich augenscheinlich nicht an der Verarbeitung von Misserfolgen gearbeitet hat, hat er aktuell wohl Schwierigkeiten mit dem, was passiert."

Prof. Dr. René Paasch
Sportpsychologe René Paasch arbeitet täglich mit Bundesliga-Profis zusammen.bild: privat

Einer, der genau weiß, wie sich das Scheitern vor einem Milliardenpublikum anfühlt, ist Kimmichs aktueller Bayern-Chef Oliver Kahn. Im WM-Finale 2002 unterlief dem Ex-Torhüter ein entscheidender Fehler, der Brasilien in Führung brachte.

Noch vor vielen Jahren war es undenkbar, dass Sportler über ihre mentale Verfassung nach Niederlagen sprechen – besonders der als Spieler gefeierte "Titan" Oliver Kahn. Doch der heute 52-Jährige hatte nach dem WM-Finale 2002 mit mentalen Problemen und seinem zu großen Ehrgeiz zu kämpfen.

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Finaltorschütze Ronaldo hilft Oliver Kahn im WM-Finale 2002 auf.Bild: dpa / Oliver Berg

Erst zu Beginn der Woche erzählte er in einem Podcast: "Mir schauten zwei Milliarden Menschen beim Versagen zu." Dann kam das Gefühl von "ausgepowert sein." Er kam kaum noch die Treppe zu Hause hoch.

2017 sprach er in einer TV-Show erstmals über seine Depressionen, dann in seinem Buch und mehreren Dokumentationen. Zu seiner aktiven Zeit wäre es undenkbar gewesen, die Krankheit zuzugeben.

Ronaldo fordert psychologischen Beistand für Neymar

Auch Brasiliens Superstar Neymar meldete sich einige Tage nach der Niederlage im Elfmeterschießen gegen Kroatien (2:4) bei Instagram und schrieb, dass er psychologisch am Boden sei.

"Das war sicherlich die Niederlage, die am meisten wehgetan hat, die mich zehn Minuten lang wie gelähmt ließ, bevor ich endlos in Tränen ausgebrochen bin. Es wird leider noch sehr lange wehtun", schrieb der Anführer des eigentlichen Top-Favoriten auf den WM-Titel.

Sollte Neymar 2026 tatsächlich noch einmal an der WM teilnehmen, rät ihm die brasilianische Fußballikone Ronaldo schon jetzt zu psychologischer Hilfe.

"Er braucht dann psychologischen Beistand, weil es einen enormen Druck auf jeden gibt, der spielt", sagte er in einem Twitch-Stream.

Auch der zweifache Weltmeister und Torschütze gegen Oliver Kahn 2002 weiß, wovon er spricht. Er litt selbst an Depressionen und ist aktuell in Behandlung.

Sportpsychologe kritisiert Vereine im Umgang mit mentaler Gesundheit

Doch auch wenn Fußballer immer häufiger über ihre mentalen Probleme sprechen, sieht Sportpsychologe Paasch noch enorm viel Handlungsbedarf.

"Aus meinen aktuellen Erfahrungen im nationalen und internationalen Profi-Geschäft ist es noch immer befremdlich, welche Arbeits- und Sichtweise von uns erwartet wird. Es wird ganz häufig davon ausgegangen, dass wir mit Spielern über glühende Kohlen laufen, sie starkreden und am nächsten Tag sollen die Spieler von einer Gruppe zu einem Team geformt sein. Was natürlich unrealistisch ist."

Zudem kritisierte er, dass es in der Bundesliga ein paar Sportpsychologen geben würde, in der 2. Liga "fast keinen" und der 3. Liga "niemanden". Daher fällt Paasch ein deutliches Fazit: "Das zeigt, dass der deutsche Fußball nicht verstanden hat, dass der Kopf und der Teamentwicklungsprozess die zentralsten Säulen für eine wirksame und längerfristige Leistungsfähigkeit und natürlich für die Gesunderhaltung sind."

WM-Aus: Sportpsychologe fordert Akzeptanz als Heilmittel

Während sich Kimmich zunächst eine Auszeit nahm, blickte Neymar bereits nach vorn, wobei er seine Zukunft in der Nationalmannschaft offen ließ. Bei der nächsten WM wird der Angreifer bereits 34 Jahre alt sein.

"Die Niederlagen machen mich stärker. Wir machen weiter. Jetzt müssen wir den Schlüssel umdrehen, Zeit mit unseren Familien und Freunden genießen, unsere Akkus wieder aufladen", erklärte der Brasilianer bei Instagram.

Für René Paasch ist das genau der richtige Ansatz. "Das Zauberwort beim Verarbeiten heißt: Akzeptanz. Das WM-Aus ist von nun an Teil des Lebens der Spieler." Gerade bei erfolgsverwöhnten Vereinsspielern sei das für den Kopf verwirrend, aber es gehe darum, auch andere Lebensbereiche in die Bewertung einzubeziehen.

"Emotionale Menschen brauchen in dieser Situation länger, um wieder leistungsfähig zu sein. Spieler, die schon erfolgreich waren und Dinge eher sachlich betrachten, finden vielleicht schneller wieder zurück", blickt Paasch auf die kommenden Wochen für die Stars.

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