Die Debatte um "Der junge Häuptling Winnetou" nach Motiven von Karl May ist in vollem Gange. Der Vorwurf: Die Darstellung der indigenen Kultur in Buch und Film sei rassistisch, die Figuren mit Klischees behaftet und es handle sich um kulturelle Aneignung.
Mittlerweile kristallisiert sich in der Öffentlichkeit auch eine Kritik an der Kritik heraus. So sagte beispielsweise die Ethnologie-Professorin Susanne Schröter von der Goethe-Universität in Frankfurt dem Portal "Zeit Online":
Watson hat mit dem Karl-May-Experten Andreas Brenne darüber gesprochen, wie viel rassistische Stereotype in der Figur des Winnetou zu finden sind.
watson: Herr Brenne, wie wichtig oder richtig sind denn diese Debatten über Rassismus und kulturelle Aneignung im Kontext von Filmen und Büchern?
Andreas Brenne: Ich denke, dass sich gerade an dieser Debatte zeigt, dass wir uns in einer sehr ambivalenten gesellschaftlichen Entwicklung befinden. Zum einen leben wir in einer offenen Gesellschaft, die von großer Liberalität geprägt ist, und sich durch umfänglichen Partizipationsmöglichkeiten auszeichnet. Auf der anderen Seite haben wir einen hohen moralischen Anspruch etabliert, der garantieren möchte, dass sich jeder auch gemäß seiner Vorlieben undiskriminiert entfalten kann. Jeder soll eine Sprecherposition erhalten, die möglichst wenig durch Ressentiments geprägt ist. Daraus entsteht ein Spannungsverhältnis, was gesellschaftlich gar nicht so leicht aufzulösen ist – die freie Meinungsäußerung und der Anspruch auf universale Rechte, sowie ein Anspruch auf eine diskriminierungsfreie Akzeptanz. In der Konsequenz entstehen Polarisierungen.
Kommt in der ganzen Debatte auch das schlechte Gewissen aufgrund der eigenen Kolonialvergangenheit durch?
Es gibt natürlich den Anspruch, die eigene Kultur zu dekolonialisieren. Die komplexe Tradition eines europäischen Staates ist nie frei von diesen hegemonialen Ansprüchen, die meist historisch begründet werden und die in einer spezifischen Kultur zum Ausdruck kommen. Es ist wichtig, diese Kultur kritisch zu betrachten.
Auf der anderen Seite ist dieser Fokus aus einer gerechtigkeitstheoretischen Perspektive problematisch, weil sie Vergangenes unter einem gegenwärtigen Blickwinkel betrachtet. Dies zeigt sich in der Debatte um ein Kinderbuch, das wahrscheinlich vor zwanzig Jahren unstrittig gewesen wäre. Was man heute als kolonial identifiziert, ist in Wirklichkeit eine Auseinandersetzung mit dem Fremden in einer Sphäre des Abenteuers und der romantischen Figuren.
Wie sehen Sie den Vorwurf der kulturellen Aneignung?
Beschreibt man den Prozess der kulturellen Aneignung erst mal neutral, so erscheint mir der Begriff der kulturellen Entwicklung deutlich angemessener. Denn die Auseinandersetzung mit einer als nicht eigen identifizierte Kultur impliziert einen Prozess der Übersetzung. Das ist, in der abendländischen Kultur, zum Beispiel dadurch manifestiert, dass sich die römische Kultur die griechische quasi angeeignet und neu bewertet hat.
Aneignung im negativen Sinne wäre dagegen ein übergriffiges, den Dialog vermeidendes Verhalten, das Objekte und Praxen eklektizistisch auswählt, neu kontextualisiert und für Wertschöpfungen nutzbar macht. Gerechtigkeitstheoretische Perspektiven spielen nur oberflächlich eine Rolle. Aneignung meint eigentlich eine kulturelle Entwicklung, die durch die Konfrontation mit als nicht eigen erkannten Phänomenen zu neuen Formen findet.
Was wäre hierfür ein Beispiel aus der Gegenwart?
Ein ganz bekanntes Beispiel ist die gesamte amerikanische Popkultur, die auf einer "wechselseitigen Aneignung" unterschiedlicher Traditionen in einem neuen Terrain basiert. Sie vereint die kulturellen Elemente der afroamerikanischen Kultur mit Kulturen der verschiedenen Migrantengruppen aus Europa, sowie Traditionen aus dem afro-karibischen Raum und dem mittel- und südamerikanischen Raum. Es entstehen kulturelle Hybride, wie zum Beispiel auch die Tex-Mex-Kultur im Grenzgebiet zwischen Texas und Mexiko.
Kulturelle Aneignung kann also auch positiv sein?
Genau. Da steckt eine poststrukturalistische Denkfigur dahinter, die besagt, dass essenzielle Kultur eine Fiktion ist. Die Vorstellung, es gebe die eine ursprüngliche und unveränderliche indigene Kultur, halte ich auch für grundfalsch. Dies überträgt sich auf die "falsche Darstellung der indigenen Kultur", die als essenziell verstanden wird. Dies trifft nicht zu, da auch die indigenen Kulturen in den heutigen USA sich permanent weiterentwickeln.
Was wäre denn so ein Fall?
Das beste Beispiel sind die Plains-Indianer-Kulturen der Lakota oder der Cheyenne, die durch eine Interaktion mit den Konquistadoren entstanden und der von ihnen eingeführten Pferdekultur. Deren Hermetik (Anm. d. Red. Abgeschlossenheit der indigenen Kultur) ist ebenso rassistisch konnotiert wie die Vorstellungen der "Indianer" als "edler Wilder", die mit der Natur im Einklang und Harmonie leben. Kulturelle Entwicklungen sind stets grau und nicht schwarzweiß. Kultur ist ein dynamischer Prozess ohne ein Zentrum. Diese Idee knüpft am philosophischen Kulturbegriff von Gilles Deleuze an, der besagt, dass Kultur rhizomatisch strukturiert ist, wie ein Pilz ein unendliches Netzwerk bildet, ohne dass es irgendwelche Zentren gibt.
Dann ist aber die romantisch-klischeehafte Darstellung vom heldenhaften Indianerhäuptling Winnetou auch kritikwürdig, oder?
Durch die Popularität der Geschichten Karl Mays ist das Interesse an indigenen Kulturen in Deutschland von großer Bedeutung. Dadurch entstand ein extrem positiv geprägtes Bild des "Indianers", ohne zu wissen, dass das viel mehr mit Projektion eigener Vorstellungen zu tun hat, als mit ethnografischen Erkenntnissen. Das ist insofern rassistisch, da der "Indianer" quasi in ewiges Reservat verschoben wird, wo er als ein mit der Natur lebender, organisch intakter Mensch präsentiert wird. Diese Vorstellung wird mit der Winnetou-Figur verknüpft, die in dem aktuellen Kinder-Film neues Leben entfaltet. Das kann man nicht in Abrede stellen oder auch mit Recht kritisieren.
Dennoch verteidigen Sie Karl Mays Werk und Wirkung ...
Man muss immer wieder auch konstatieren: Es geht um Sichtbarkeit. Indigene Vertreter erachten das für wertvoll, insbesondere wenn sich daraus eine Auseinandersetzung mit dem Realen entwickelt.
Unabhängig von dem kulturellen Kontext sind Karl May-Geschichten meist extrem dicht und komplex und enthalten auch alle möglichen interessanten, jenseits der jetzt aus der Zeit gefallenen Themen. Zum Beispiel die Frage nach Identität, die Frage nach einer grundsätzlichen menschlichen Friedensfähigkeit.