Ein Interview des "Spiegel" sorgt für Kritik und Diskussionen in den sozialen Medien. Das Magazin hat ein Gespräch mit Virologin Sandra Ciesek veröffentlicht, in dem sie als "Quotenfrau" bezeichnet wird. Außerdem klinge ihr Moderationsstil "ein wenig nach Volkshochschule", heißt es in dem Interview. Ciesek ist Professorin für Virologie und Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie in Frankfurt. Seit September informiert sie im Wechsel mit Christian Drosten im "NDR"-Podcast "Coronavirus-Update" über das Coronavirus.
Bereits im Mai hatte auch Cieseks Kollege Drosten dem "Spiegel" ein Interview gegeben. In den ersten Absätzen ging es damals um Drostens neue Berühmtheit und seine herausgestellte Rolle bei der Bekämpfung der Pandemie. Fünf Monate später trafen sich dieselben Redakteurinnen nun mit Ciesek – und befragten sie zunächst zu ihrem Geschlecht. Diese Vorgehensweise kritisieren nun Nutzerinnen und Nutzer auf Twitter. Auch prominente Persönlichkeiten wie Luisa Neubauer melden sich zu Wort.
Journalistin Teresa Bücker, Kolumnistin für das "SZ-Magazin" und ehemalige Chefredakteurin von "Edition F", machte ihren Unmut über den Beginn des Interviews deutlich, indem sie auf Twitter mit einem Augenzwinkern dazu aufrief, "freche" Einstiegsfragen an Männer zu sammeln. Damit drehte sie den Spieß einmal um – und erreichte große Resonanz.
Lasst uns doch mal ,freche‘ Interview-Einstiegsfragen an Männer sammeln. Ich habe das Gefühl, diese Technik wurde in den letzten Jahrzehnten etwas einseitig vermittelt 🙃
— teresa bücker (@teresabuecker) October 18, 2020
In den Kommentaren zu Bückers Tweet äußern sich etliche betroffene Frauen. Sie schildern ihre persönlichen Interview-Erlebnisse und machen Vorschläge, wie Männer entsprechend befragt werden könnten.
Auch toll sind die Antworten, die einem in den Mund gelegt werden. Bei mir wurde mal aus einem „Ja“ auf die Frage, ob ich einen Partner habe ein:
— Ricarda Lang (@Ricarda_Lang) October 18, 2020
„Natürlich, und er liebt mich so wie ich bin.“
Fühlst du dich ernstgenommen? Ich kann doch Du sagen, oder?
— Luisa Neubauer (@Luisamneubauer) October 18, 2020
Ihr Studium, Ihre Promotion, Ihre Habilitation, ihre zig Veröffentlichungen in diesen renommierten Fachmagazinen - ganz ehrlich, wie sehr hat Ihre Frau Sie da unterstützt?
— Natalie Grams (@NatalieGrams) October 18, 2020
Hätte Überschrift-Ideen für ein Interview anlässlich der Wahl zum politischen Geschäftsführer einer Partei, die in mehreren Landtagen vertreten ist. Damit man politisch so richtig ernst genommen wird & so. 🤴🏻😘 pic.twitter.com/uAVzaQdkoO
— Katharina Nocun (@kattascha) October 18, 2020
"Gerade in Ihrem Fachgebiet werden Männern ja nach wie vor rote Teppiche ausgerollt, andernorts gibt es längst mehr Vielfalt. Was meinen Sie, woran das liegt? Haben Sie u ihre Kollegen Angst vor Frauen? Fürchten Sie fachl. Konkurrenz o ängstigt Sie schon die Gegenwart v Frauen?"
— anke domscheit-berg (@anked) October 18, 2020
Frau Akyün, was sagt Ihr Vater eigentlich dazu, dass Sie ein uneheliches Kind bekommen haben? (Diese Frage wurde mir gestellt)
— Hatice Akyün (@hatice_akyun) October 18, 2020
Auch Sandra Ciesek selbst äußerte sich zu den betreffenden Stellen des Interviews. Sie sei überwältigt, was das Thema für Wellen schlage, postete sie auf Twitter: "Ich war auch irritiert von den provokanten Fragen und deren Sinn. Einschüchterung? Schlagzeilen? Führt jedenfalls dazu, dass Frau sich weiter aus solchen Dingen zurückzieht. War das die Mission?"
Rafaela von Bredow, eine der beiden Interviewerinnen, reagierte auf die Kritik. Auf Twitter schrieb sie, dass die Virologin im Gespräch nicht angemerkt hätte, dass sie die Fragen unangemessen fände und dies auch nicht bei der schriftlichen Freigabe des Interviews getan habe.
Liebe Frau @CiesekSandra, nein, das war es nicht. Wenn Sie unsere kritische Frage so empfunden haben, ist das schade. Und bedauerlich, dass Sie das in unserem Gespräch nicht im Entferntesten haben anklingen lassen. Auch in Ihrer Autorisierung des Interviews: kein Wort dazu. https://t.co/v0kXwFMIiB
— Rafaela von Bredow (@bredow) October 17, 2020
Nach der öffentlichen Kritik aktualisierte der "Spiegel" eine Frage um die Information, dass es sich bei der Formulierung "die Neue an Drostens Seite" um ein Zitat von "Bild"-Zeitung und "Berliner Zeitung" handle.
Das Interview sollte nicht nur auf die ersten drei Fragen reduziert werden. Aus diesem Grund schaltete das Hamburger Nachrichtenmagazin das Gespräch als Reaktion auf die Vorwürfe auch online kostenlos frei.
Gegenüber watson teilt der "Spiegel"-Verlag außerdem mit: "Wir haben in unserer montäglichen Redaktionskonferenz über das 'Spiegel'-Gespräch mit der Professorin Sandra Ciesek und die damit einhergehende Kritik kontrovers diskutiert. Unsere Interviews sind oft hart in der Sache und meist auch im Ton. Das lässt sich im Journalismus nicht verhindern, es ist im Gegenteil gewollt. Aber in diesem Fall können wir nachvollziehen, dass die Einstiegsfragen im Ton als unangemessen empfunden worden sind." Und weiter: "Es war nie unsere Intention, Frau Cieseks Kompetenz in Frage zu stellen, und wir bedauern, dass dies so verstanden wurde."
(hau)