Am 22. Juli 2011 setzte Anders Behring Breivik auf die kleine Insel Utøya über, auf der sich hunderte Teenager für das traditionelle Sommercamp der Arbeiterjugend (AUF) eingefunden hatten. In knapp anderthalb Stunden erschoss der norwegische Rechtsextremist 69 der meist jungen Camper, nachdem er in Oslos Regierungsviertel acht Menschen mit einer Bombe getötet hatte. Das Massaker hat sich tief in das kollektive Gedächtnis der Norweger eingebrannt – und jährt sich heute zum zehnten Mal.
Ob sie es wollten oder nicht: Breiviks Attentat hatte starke Auswirkungen auf das politische Engagement der jungen Norweger. Der AUF schreibt dazu im aktuellen Konferenz-Programm: "Der Terroranschlag auf Utøya am 22. Juli 2011 war ein Anschlag auf Jugendliche, die an einem politischen Sommercamp teilnahmen. Einige der angegriffenen Jugendlichen engagierten sich nach dem 22. Juli noch stärker, andere zogen sich aus der Politik zurück". Doch nicht nur die Betroffenen selbst, auch ihre Altersgenossen bezogen unmittelbar Stellung: "Alle Jugendparteien verzeichneten im Herbst 2011 einen erhöhten Mitgliederzuwachs."
Die zunehmende Politisierung der vergangenen Jahre bedeutet aber nicht unbedingt größeren Zusammenhalt unter jungen Norwegern. Im Gegenteil: Die Überlebenden von Utøya erreichen bis heute rechte und hämische Hass-Kommentare über soziale Medien. Und das Problem sind nicht nur Trolle im Internet.
Attentäter Breivik hat Nachahmer, auch in Norwegen selbst, wie die AUF warnt. Im August 2019 erschoss ein junger Mann am Stadtrand von Oslo aus rassistischen Motiven erst seine Stiefschwester, dann eröffnete er das Feuer in einer Moschee. Dem Hass und der vergifteten politischen Kultur, müsse schon im Vorfeld entgegengewirkt werden, sind sich viele der Überlebenden des Amoklaufs heute einig.
Elin L'Estrange, die das Massaker damals nur durch einen Sprung ins Wasser überlebte, sagt dazu: "Dass es Menschen gibt, die immer noch Breiviks Ideen teilen, dass wir einen weiteren von Breivik inspirierten Terroranschlag in Norwegen hatten, zeigt, dass wir es versäumt haben, den politischen Aspekt des Massakers herauszuarbeiten."
Auch andere Attentäter in Neuseeland, den USA und vielen anderen Ländern seien durch Breivik inspiriert worden, glaubt sie. "Das ist eine internationale Bewegung, die wir ernst nehmen müssen, sie ist gefährlich".
Dass selbst zehn Jahre nach dem Amoklauf noch solche Taten geschehen, frustriert auch Astrid Eide Hoem, eine weitere Überlebende. "Wir haben über den Einsatz der Rettungsdienste und das Versagen der Behörden diskutiert, über Mahnmale und Breiviks mentale Verfassung", sagt die heute 26-Jährige. "Aber wir haben es nicht geschafft, eine Debatte darüber zu führen, wie junge weiße Männer, die wie wir in Norwegen aufwachsen, in dieselben Schulen gehen und in denselben Vierteln leben, so extreme Ansichten entwickeln können, dass sie meinen, dafür töten zu können."
Hoem war 16 Jahre alt, als sie auf der Insel um ihr Leben fürchtete. Sie versteckte sich an einer Klippe und schickte eine, wie sie dachte, letzte SMS an ihre Mutter: "Ich liebe dich mehr als alles andere auf der Welt. Ruft mich nicht an. Ihr seid die besten Eltern der Welt." Sie konnte fliehen. In den Wochen darauf aber wusste sie nicht, zu welcher Beerdigung ihrer Freunde sie gehen sollte. Es waren zu viele.
Heute ist sie Vorsitzende der Jugendorganisation der sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Und sie hat eine Mission: Das Schweigen über die politischen Motive hinter der Tat zu brechen. "Der wichtigste Schutz liegt vor der Polizeisperre", sagt sie der Nachrichtenagentur AFP. "Wir müssen diese Art der Radikalisierung stoppen".
Daran arbeitet die Jugend der Arbeiterpartei weiter. Obwohl es einigen makaber anmutet: Ihre Sommercamps finden weiterhin jedes Jahr auf der Insel Utøya statt. Utøya sei ein "Ort der Kultur, Toleranz, Freundschaft und Liebe", so die Veranstalter auf ihrer Website. Sie werben mit Konzerten, Lagerfeuern und Handball für das "schönste Abenteuer dieses Sommers".
Die Entscheidung, Utøya nicht zu einem stillen Ort der Trauer werden zu lassen, fiel ganz bewusst. Die AUF sieht in der weitergeführten politischen Arbeit vor Ort auch ein Zeichen des Widerstands junger Menschen gegen den Terrorismus. Es sei "ein Ort, der aufsteigt aus der Asche, um weiter für die Werte zu arbeiten, die am 22.7.2011 angegriffen wurden."
Vergessen sind die Ereignisse natürlich nicht. Auf der Insel wurde eine Wand installiert, auf der sich die Chats nachlesen lassen, die Jugendliche während des Amoklaufs mit ihren Liebsten per Handy führten. Auf einer Lichtung wurde ein Denkmal mit den Namen aller Verstorbenen errichtet. Zudem ist ein Gedicht allgegenwärtig auf T-Shirts und der Fähre: "Nach dem 22. Juli" von Frode Grytten.
Zum 10-jährigen Gedenken kam die AUF diese Woche zu einer Konferenz auf der Insel zusammen. Dabei ging es nicht nur um die Trauer der letzten zehn Jahre, sondern auch um Lehren für die Zukunft: Wie entstehen antidemokratische Einstellungen in der Gesellschaft? Und wie radikalisieren sich Menschen? Diese Themen, die junge Menschen in ganz Europa beschäftigen, haben hier, auf Utøya, heute ein ganz besonders großes Gewicht.
(jd mit Material der afp)