Wenn die Rede von der derzeitigen Situation der Kinderheilkunde ist, fallen bei Experten Worte wie: "katastrophal", "am Limit" oder "dramatisch".
Die deutschen Kinderkliniken, aber auch die ambulanten Kinder- und Jugendarztpraxen in Deutschland sind komplett überfüllt. Eltern finden kaum noch Plätze für ihren Nachwuchs, die Ärzt:innen wissen nicht mehr, wohin mit all den kranken Kindern. Kinderkliniken müssen sie wegen Überbelegung abweisen und Praxen verhängen Aufnahmestopps.
Einer der Gründe dafür ist, dass sich das Respiratorische Synzytial-Virus (RSV) derzeit extrem schnell verbreitet. Aber auch schwere Atemwegsinfekte durch Influenza-Viren, Coronaviren und anderen Erkältungsviren treten gerade vermehrt auf.
"Wir sehen dieses Jahr deutlich früher einen Anstieg der im Winter üblichen Infektionskrankheiten der oberen Atemwege. Dabei macht uns Angst, dass wir die Dauer des Anstiegs zunächst nicht vorhersehen können", sagt Jakob Maske, Bundespressesprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) auf Nachfrage von watson. Die Lage ist angespannt.
Eine aktuelle Ad-hoc-Umfrage der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) ergab, dass von 110 Kinderkliniken zuletzt 43 Einrichtungen kein einziges Bett mehr auf der Normalstation freihatten. Lediglich 83 freie Betten gibt es generell noch auf pädiatrischen Kinderintensivstationen in ganz Deutschland – das sind 0,75 freie Betten pro Klinik, also weniger als eines pro Standort.
Besonders viele Neuaufnahmen machen derzeit Kinder mit RSV-Infektion aus, 138 sind es insgesamt. Auf der Pressekonferenz der Divi sagt Sebastian Brenner, Bereichsleiter der Pädiatrischen Intensivmedizin der Unikinderklinik Dresden:
Eigentlich hätten die 110 befragten Kliniken 607 aufstellbare Betten zur Verfügung. Betrieben werden könnten aber lediglich 367 Betten. Grund für die Sperrung der Betten: vor allem der Personalmangel.
Die Folgen? 51 Kliniken, also jede zweite, berichten der Umfrage zufolge, dass sie Anfragen des Rettungsdiensts zur Aufnahme von Notfällen für die Kinderintensivmedizin ablehnen mussten. Heißt konkret: insgesamt 116 abgelehnte Patient:innen – an nur einem Tag.
"Diese Situation verschärft sich von Jahr zu Jahr und wird auf dem Rücken kritisch kranker Kinder ausgetragen", bemängelt Divi-Generalsekretär Florian Hoffmann bei einer Pressekonferenz.
Da es die Politik die letzten beiden Jahre nicht geschafft hat, das Gesundheitssystem zu reformieren und dem Pflegemangel gegenzusteuern, trifft es jetzt die Gesundheit der Kinder. Und das, obwohl die Corona-Pandemie bereits zeigte, wie dramatisch die Lage ist: Schon lange ist bekannt, dass es zu wenig Betten und zu wenig Personal für Notlagen gibt. Und in einer solchen befinden sich Kinder gerade.
Der leitende Oberarzt der Kinderintensivmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover, Michael Sasse, bringt das Problem in der Konferenz auf den Punkt: "Kinder müssen sterben, weil wir sie nicht mehr versorgen können."
Die hohe Zahl an Infekten ist nicht alleine Schuld an der aktuell dramatischen Lage der Kindermedizin, erklärt Jakob Maske auf watson-Anfrage. Er ist der Sprecher des Bundesverbands der Kinder- und Jugendärzte. Gerade im Bereich der niedergelassenen Kinderärzt:innen mit eigener Praxis kämen noch andere Faktoren hinzu:
Auch die Unterversorgung der Kinderkliniken wirke sich auf die niedergelassenen Ärzt:innen aus. 80 Prozent der Kliniken mussten in den letzten Jahren die Zahl ihrer Betten reduzieren, sogar im Intensivbereich. In den Kinderarztpraxen müssen daher zunehmend schwer kranke und chronisch kranke Kinder und Jugendliche mitversorgt werden.
Dazu kommt, dass wieder mehr Kinder geboren werden und auch die Kinder von Geflüchteten betreut werden müssen. Die steigenden Energiepreise belasten die Kinderärzte zudem überdurchschnittlich. "Anders als in öffentlichen Gebäuden können wir zum Beispiel kaum die Raumtemperaturen absenken, weil wir Neugeborene und kranke Kinder nicht frieren lassen können."
Viele Eltern vereinbaren auch zu voreilig einen Arztbesuch mit ihrem Kind: "Ein Schulkind, das nur hustet, kein Fieber hat und sich auch ansonsten wohlfühlt, muss in der Regel keinem Kinderarzt vorgestellt werden. Dennoch sehen wir solch leichte Fälle sehr häufig, was natürlich die Wartezeit für andere unnötig verlängert", sagt Maske.
Wenn die Politik nicht schnell gegensteuert, werde die Lage noch dramatischer, warnt Maske: Etwa ein Drittel der Kinder- und Jugendärzt:innen würde in den kommenden fünf Jahren in Rente gehen. Es gebe aber zu wenig Nachfolger:innen.
Maske warnt vor den Folgen des Ärztemangels:
Der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte fordert daher von der Politik zur Unterstützung niedergelassener Ärzt:innen mehr Medizinstudienplätze, Perspektiven für junge niederlassungswillige Ärzt:innen und mehr Klinikbetten.
Die Divi fordert für die Kinderklinken konkret bessere Bedingungen für die Ausbildung und die Arbeit von Ärzt:innen, beispielsweise durch Ausfallkonzepte und bezahlte Fortbildungen in der Arbeitszeit. Außerdem sollen Ärzt:innen entlastet werden von pflegefernen Aufgaben und eine deutlich bessere Bezahlung erhalten. Denn die Schreibarbeit kostet Zeit, die Ärzt:innen bei der Versorgung ihrer Patient:innen fehlt.
Wichtig sei auch der Aufbau von Kinderintensivtransport-Systemen, um Kinder sicher und von Kinderexperten begleitet zu transportieren. Dies machen derzeit Ärzte wie Florian Hoffmann häufig in ihrer Freizeit.
"Die Arbeit in Kinderintensivstationen ist das emotional belastendste, was ich in der Medizin kenne. Deshalb bedarf es auch einer großen Pflege der dort arbeitenden Menschen", sagt der Kinderintensivarzt Michael Sasse. Das Anti-Burnout-Programm für Ärztinnen an seiner Klinik werde derzeit nur durch Spenden finanziert.
Die Kinder-Intensivmediziner setzen sich zudem dafür ein, umfassend die Rechte der Kinder ins Grundgesetz aufzunehmen. Nur so würden Kinder mehr in den politischen und gesellschaftlichen Fokus rücken
Immerhin: Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat bereits versprochen, das Fallpauschalen-System abzuschaffen. Bei Fallpauschalen erfolgt die Vergütung von medizinischen Leistungen pro Behandlungsfall. Ein erster Schritt. Doch mehr ist nötig.