Über vier Millionen Ukrainer und Ukrainerinnen sind derzeit auf der Flucht aus ihrem Land: Vor allem Familien und besonders Frauen und Kinder wollen sich vor dem russischen Angriffskrieg in Sicherheit bringen. Die anderen circa 40 Millionen Einwohner und Einwohnerinnen der Ukraine befinden sich mitten im Kriegsgebiet, wo sie sich vor Truppen und Bomben verstecken – oder gegen sie kämpfen.
Was diese Menschen, ob auf der Flucht oder weiterhin in der Ukraine, an Gräueltaten und Schrecken durch die russischen Aggressoren erleben, wird wahrscheinlich nicht nur ihr Leben negativ beeinflussen, sondern auch das ihrer Kinder und Kindeskinder.
Transgenerationale Weitergabe nennt man dieses Phänomen in der Forschung.
Falls ein Mensch also ein Trauma erlebt, kann es sein, dass er seine posttraumatischen Belastungsstörungen durch die transgenerationale Weitergabe indirekt und ungewollt an seine Kinder weitergibt. Die Kinder erleiden dann seelische oder psychische Schäden, ohne je selbst eine ähnliche traumatische Erfahrung gemacht zu haben. Besonders häufig und erstmals wurden diese Phänomene bei Überlebenden des Holocaust und ihren Nachkommen bemerkt.
Diese Erkenntnis wurde 2017 auch in einer Publikation des Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages (WD) unter dem Titel "Transgenerationale Traumatisierung" bestätigt: Eine Übertragung von Traumata auf die nachfolgenden Generationen "mit entsprechenden krankhaften Folgeerscheinungen für die Betroffenen" sei "inzwischen als klinischer Befund anerkannt".
Doch nicht nur Holocaust-Überlebende sind davon betroffen.
Der Autor Natan Kellermann schrieb schon in seinem Buch "Geerbtes Trauma" aus dem Jahr 2011, dass diese Prozesse ebenso und "in steigendem Maße auch bei Nachkommen anderer traumatisierter Bevölkerungsgruppen – bei Kriegsversehrten, überlebenden Genozidopfern, Opfern von Terror und Folter, Sklaverei und nuklearen Ereignissen, durch Menschen verursachte Gewalt und Naturkatastrophen – in vielen Teilen der Welt" vorkommen.
Nur hätten diese verschiedenen Gruppen bisher noch keinen proportionalen Eingang in Forschungsstudien gefunden – oder es existierten nur Einzelstudien zu ihnen.
Doch nicht jeder wird durch ein Trauma sein Leben lang geprägt oder entwickelt eine posttraumatische Belastungsstörung, sagt die Psychologin Manuela Ziskoven im Gespräch mit watson.
Sie ist Soziologin und Traumatherapeutin und arbeitete zehn Jahre in Israel, wo sie die Folgen der Transgenerationalen Traumatisierung durch den Holocaust erlebte.
Entscheidende Faktoren sind beispielsweise die "Widerstandskraft von jemanden – also inwieweit die Person Ressourcen hat, sich davon nicht ganz am Boden zerstören zu lassen", so die Psychologin. Wenn die Eltern das traumatische Erlebnis verarbeitet haben, würden sie es in der Regel nicht weitergeben. Die transgenerationale Weitergabe träfe nur auf unverarbeitete traumatische Erfahrungen zu.
Wie ernst solche seelischen Folgen der transgenerationalen Weitergabe einer Kriegsgeneration sein können, weiß man heute in Deutschland schon sehr gut: 2010 kam hierzulande der Begriff "Kriegsenkel" auf, er bezeichnet die indirekt vom Ersten und Zweiten Weltkrieg betroffenen Nachkommen.
Der Journalist Matthias Lohre kennt die Verhaltensweisen traumatisierter Eltern und deren Folgen gut. In dem Buch "Das Erbe der Kriegsenkel" erzählt er von seinen Erfahrungen als Kriegsenkel und der Suche nach einer Lösung von seinen Eltern.
Er erzählt im Gespräch mit watson, dass als Folge der Kriegserfahrungen des Zweiten Weltkriegs viele Menschen dieser Generation ihre Nöte und Emotionen als kleine Kinder verdrängen und unterdrücken mussten, weil niemand da war, der sich ihrer angenommen hätte.
Die Auswirkungen dieser vererbten Traumata können unterschiedlich sein: die Verdrängung von Gefühlen, also eine emotionale Abkapselung, mangelndes Selbstwertgefühl, diffuse Angst, Leistungsdruck oder extremen Schuldgefühle gegenüber den Eltern.
Lohre bekam als Kind das Verhalten seiner Eltern mit, die durch die Erlebnisse des Kriegs selbst belastet waren: Sein Vater, der als Kind selbst geschlagen wurde, war "entweder wütend oder geistig abwesend, weil er sich selbst gar nicht spürte".
Aber auch eine gegenteilige Reaktion, eine Überkompensation ist möglich, wie im Fall von Lohres Mutter: "Unsere Mutter versuchte, den eigenen Liebesmangel, den sie als Kind erlitt, durch eigene Kinder wiedergutzumachen." Der Autor ist das jüngste von fünf Kindern.
So forderte die Mutter durch ihr Leid ständig die liebevolle Aufmerksamkeit ihrer Kinder ein. Lohre spricht von einer "Instrumentalisierung von Kindern" und erklärt, als Folge habe er sein Leben lang versucht, der Mutter keine Last zu sein:
Einen emotionalen Zufluchtsort vor der Strenge und Distanz des Vaters konnte aber auch die Mutter nicht bieten: "Das ist eine Verkehrung der natürlich Rollen. Eine Mutter, die sich als schutzbedürftig und klein darstellt, zwingt ihre Kinder in die Rolle von Erwachsenen." Dieses Verhalten nenne sich Parentifizierung.
Die Folgen solcher Erfahrungen setzten sich selbst als Erwachsener fort. "Diese Muster sind stark in unserem Hirn eingebrannt durch die Erfahrungen unserer Kindheit. Und die Verhaltensweisen, die wir als Kinder gelernt haben, verbinden wir oft gar nicht mehr mit unseren Eltern." Umso länger unverarbeitete Erlebnisse weitervererbt werden, umso diffuser werden laut Wissenschaft auch die Zusammenhänge.
Lohre selbst konnte diese vererbten Gefühle und Verhaltensmuster erst nach dem Tod seiner Eltern auflösen und sich mit Hilfe einer Psychotherapie von Schuldgefühlen befreien. Er erklärt im Gespräch mit watson, dass man für die Verarbeitung der vererbten Traumata nicht unbedingt die Eltern oder das Gespräch mit ihnen brauche.
Stattdessen müsse man für die Auflösung des transgenerationalen Erbes an das innere Kind heran, an die inneren Vater- und Mutterbilder. Er sagt: "Letztlich ist eine Versöhnung mit sich selbst wichtiger als eine Versöhnung mit den realen Eltern heute."
Oft, wie in seinem Fall, erleichtere der Tod der Eltern sogar die Aufarbeitung, weil das Zulassen von Wut und Trauer über deren einstiges Verhalten ihnen nicht mehr weh tun könne. "Es war leichter, mir einzugestehen, was mir in meiner Kindheit gefehlt hatte."
Die transgenerationale Weitergabe wird in Deutschland oft für die Kriegsenkel des Zweiten Weltkriegs verwendet, doch beschränkt sich dieses Phänomen nicht auf ein Land. Es ist ein psychischer Prozess und wissenschaftliche Erkenntnisse belegen, dass extrem traumatische Erfahrungen sozusagen indirekt "vererbt" werden können.
Dies könnte vor allem für die Kinder und Jugendlichen in der Ukraine, die gerade traumatische Dinge sehen und traumatisierte Eltern erleben, ein Problem werden, wie die Psychologin Manuela Ziskoven sagt:
Wenn diese Kinder also nicht genügend Unterstützung bekämen, um ein Traum zu verhindern oder dessen aufzuarbeiten, würden sie es an ihre Kinder und Enkel weitergeben.
Die Ukraine hat aufgrund früherer Kriege bereits jetzt eine Generation, die durch traumatische Erlebnisse ihrer Eltern beeinflusst wurden. Lohre glaubt, dass viele Ukrainer und Russen den Auftrag fühlen würden, gewissermaßen für ihre Eltern und Großeltern in den Krieg zu ziehen.
Als Beispiel nennt er den "Holodomor" genannten Völkermord von 1932/33. Er sagt: "Das hat natürlich Folgen, auch für die ganze ukrainische Selbstwahrnehmung. Viele Ukrainer definieren sich auch anhand ihrer Opfererfahrung."
Der jetzige Einmarsch der Russen in der Ukraine triggere alte und vererbte Traumata, so der Buchautor. "Ich glaube, dass viele junge Ukrainer einen Auftrag früherer Generationen verspüren, der ungefähr so lautet: 'Das, was damals mit uns geschah, erst durch die Russen und dann durch die Deutschen, diese komplette Ohnmachtserfahrung, einen Massen-, gar einen Völkermord, das lassen wir nie wieder zu.'"
Auch Putins Handeln könnte seiner Meinung nach von vererbten Traumata angetrieben sein:
Der Buchautor vermutet, dass diese Kindheitsgeschichten und eine schwere Kindheit Putin stark geprägt haben könnten: "Diese traumatischen Erfahrungen pflanzen sich natürlich fort, erst recht, wenn sie vorher geleugnet werden", sagt er bei watson. "Wer sich als Kind ohnmächtig und bedroht fühlt und diese Erfahrungen als Erwachsener nicht reflektiert, der wird immer neue Allmachtsfantasien entwickeln, um beängstigende Gefühle in Schach zu halten."
Traumatische Kriegserfahrungen könnten sogar eine ganze Nation prägen: "Nach Jahrhunderten der Despotie – unter Zaren, den Bolschewiki, den Deutschen und heute Putin – haben sie den Glauben verinnerlicht, sie dürften niemals schwach sein. Wer so denkt, für den ist Angriff natürlich immer die beste Verteidigung. So schlagen alte Traumata neue psychische Wunden. Ein Teufelskreis."
Der Buchautor Matthias Lohre befürchtet, dass gerade in der Ukraine millionenfach neue Kriegstraumata entstehen: "Jeder und jede in der Ukraine kennt jetzt jemanden, der im Krieg ist, gestorben, verletzt, auf der Flucht oder vermisst. Das ist zutiefst schockierend für jedes Land und für jede Bevölkerung."
Doch er hofft, dass beispielsweise die Ukrainer und Ukrainerinnen auf der Flucht so gut betreut würden, dass kein Trauma entstehe. Denn nur, wenn diese traumatisierende Erfahrungen länger andauern und wenn ein Mensch sich dauerhaft hilflos fühle, werde daraus ein Trauma.
So könnte die freundliche Aufnahme der Geflüchteten und das Einbetten in neue Strukturen, in Klassen mit ukrainischen Lehrern und Lehrerinnen helfen, ein Trauma zu verhindern. Vor allem den Kindern:
Eine verstärkte Resilienz sei der positivste Fall, der durch eine traumatische Erfahrung eintreten könne, so Lohre.
Laut der Psychologin Manuela Ziskoven, die in einer Beratungsstelle für Geflüchtete arbeitet, ist mit ersten Betroffenen aber erst in einigen Monaten zu rechnen: Zum einen, da eine Posttraumatische Belastungsstörung erst nach einem halben Jahr überhaupt diagnostiziert werden dürfe, weil die akuten Probleme wie Flashbacks von alleine zurückgehen würden.
Zum anderen aus Unwissenheit: "Wir rechnen damit, dass Leute aus der Ukraine erst in einem Jahr frühestens bei uns aufschlagen. Viele wissen gar nicht, dass sie ein Trauma haben. Sie wissen nicht, dass ihre Symptome gegebenenfalls Trauma-Folgestörungen sind."
Und gerade den Menschen, die noch mitten im Krieg sind, würden die Folgen erst im Nachhinein spüren.
Im Moment kann man Betroffenen laut der Traumatherapeutin am meisten helfen mit "einem Umfeld, das Sicherheit und Vertrauen in die Zukunft vermittelt". Dies "mindert die Traumafolgen ab und ist die beste Prävention gegen die Entstehung von Traumata."