Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat eine Debatte über die Einführung eines sozialen Pflichtdiensts für junge Menschen in Deutschland angeregt. "Es geht um die Frage, ob es unserem Land nicht gut tun würde, wenn sich Frauen und Männer für einen gewissen Zeitraum in den Dienst der Gesellschaft stellen", sagte er der "Bild am Sonntag".
Steinmeier sprach von einer "Pflichtzeit" und betonte, diese müsse kein ganzes Jahr lang sein. Der Zeitraum könnte bei der Bundeswehr geleistet werden, aber genauso gut bei der Betreuung von Senioren, in Behinderteneinrichtungen oder in Obdachlosenunterkünften. Eine erneute Wehrpflicht will Steinmeier nach eigener Aussage aber nicht.
Was er dagegen mit einer Pflichtzeit für junge Leute erreichen will, erklärt er so:
Seit dem Ende der allgemeinen Wehrpflicht, und damit auch des Zivildienstes im Jahr 2011, gibt es es in Deutschland für junge Menschen, die an gemeinwohlorientierter freiwilliger Arbeit interessiert sind, weiterhin das Freiwillige Soziale Jahr (FSJ), das Freiwillige Ökologische Jahr und den Internationalen Jugendfreiwilligendienst. Diese Angebote stehen jungen Frauen und Männern unabhängig von Schulabschluss, Herkunft oder Einkommenslage bis zum Alter von 27 Jahren offen. Daneben gibt es den Bundesfreiwilligendienst als Angebot für Menschen jeden Alters.
Familienministerin Lisa Paus befürwortet den Pflichtdienst nicht, sondern ist für freiwilliges Engagement: "Für den einzelnen Jugendlichen bedeutet ein solcher Freiwilligendienst eine persönliche Bereicherung, für die Gesellschaft ist er eine wichtige Unterstützung – auch, weil die jungen Menschen sich freiwillig engagieren und mit Herzblut bei der Sache sind."
Der Aspekt des Zwangs und die daraus möglicherweise resultierende Ablehnung wird von Menschen mit Behinderung bei der Einführung eines Pflichtdienstes kritisch betrachtet: Sie seien als Hilfsbedürftige nicht als Versuchskaninchen da, um unwillige Jugendliche zu sozialen Bürgern zu erziehen, so das immer wieder genannte Argument.
Bei vielen jungen Menschen sorgt der Vorschlag Steinmeiers ebenfalls für Empörung. Ohnehin hat bei über 70 Prozent der Menschen zwischen 16 und 26 Jahren das Vertrauen in die Politik gelitten. Dies zeigt eine repräsentative Umfrage der Generationen Stiftung Mitte Juni 2021.
Ganze 83,4 Prozent sagen, dass die derzeitige Regierung die Interessen junger Menschen trotz vieler Proteste in den letzten Jahren ignoriert. Mehr als die Hälfte der jungen Erwachsenen (54,8 Prozent) fühlt sich von keiner der zur Wahl stehenden Parteien vertreten.
Nach der Corona-Pandemie sind zudem viele junge Menschen wütend, weil sie permanent zurückstecken mussten für den Schutz der älteren Generation. Ihre Anliegen wie Klimaschutz, Bafög oder Infektionsschutz in Schulen wurden dagegen von der Politik weitgehend ignoriert.
Die 18-Jährige Emily aus Berlin findet, der Pflichtdienst für junge Leute ist "ein unüberlegter Vorwand, billige Arbeitskräfte in sowieso schon schlecht bezahlte Berufe einzubringen. Wobei in keinster Weise die individuellen Lebensgeschichten der Jugendlichen berücksichtigt werden."
Stattdessen fordert sie mehr Anerkennung und eine bessere Bezahlung für soziale Berufe. "Wer die Wichtigkeit dieser Berufe versteht, der würde keine unerfahrenen Jungen Leute als 'Hilfskräfte' einsetzen. Unsere Gesellschaft entwickelt sich dauerhaft in kleinen Schritten und eine solche Entscheidung wäre ein großer Schritt nach hinten."
Theresia Crone ist 19 Jahre alt und schon im vierten Semester ihres Jura-Studiums. Sozial engagiert ist sie – trotz dieses raschen Studientempos und eines abgesagten freiwilligen sozialen Jahres: "Ich hätte ein Jahr im Homeoffice verbracht, und das finde ich, ist kein soziales Jahr." Trotzdem: Sie ist nicht nur für den Klimaschutz bei Fridays for Future aktiv, sondern auch bei der Ehrenamtsstiftung Mecklenburg-Vorpommern.
Im Gespräch mit watson sagt sie:
Vor allem, wenn man sich ansehe, wer sich in der Bevölkerung überhaupt für die Gesellschaft engagiert: Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geht von 53 Prozent Jugendlichen aus, die sich ehrenamtlich engagieren. "Das heißt, das ist die aktivste Generation, was ehrenamtliches Engagement angeht. Dass ist die Generation, die am meisten zurückgesteckt hat und dass man jetzt ausgerechnet zu denen sagt, das reicht noch nicht, finde ich prinzipiell schwierig."
Abgesehen davon sei ein Pflichtdienst nicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und dem Grundgesetz vereinbar, wie die Jura-Studentin erklärt. Beim Pflichtdienst "reden wir hier auch über Zwangsarbeit im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention".
Für die Wehrpflicht gebe es dort eine Ausnahme, die gelte jedoch nicht für einen Pflichtdienst.
Denn generell befürwortet Crone ehrenamtliches Engagement und Programme wie das FSJ – wenn die Bedingungen stimmen. "Der Punkt ist doch: Es kann nicht sein, dass wir FSJler mit 2 Euro die Stunde vergüten. Das kann man sich wirklich nur leisten, wenn man eine Familie hat, die einen unterstützt." Außerdem, so ihre Meinung, sei mit Zwang oft beiden Seiten nicht geholfen: "Wenn jemand sagt, du musst etwas machen, dann mache ich das absolute Minimum, dann mache ich nicht mehr als das, was ich muss."
"Ich finde, jeder sollte sich einmal im Leben ehrenamtlich gesellschaftlich engagiert haben. Aber ich finde es auch komisch, vorzuschreiben, in welcher Form das erfolgen muss", sagt die 19-Jährige.
Statt eines Pflichtdienstes gebe es viele andere Ansätze für soziales Engagement. Zum Beispiel Programme in Schulen, die mit einem Altersheim kooperieren. Dort bekomme man nach der Schule einen Paten, damit die Kinder frühzeitig beginnen, sich für sozialen Berufen zu interessieren. "Man muss dann nicht sagen, dass jeder quasi verpflichtet ist, ein Jahr seines Lebens damit zu verbringen."
Auch Stefanie, 24, empfindet den Pflichtdienst als eine Frechheit, wie sie watson sagt. Sie frage sich, "wieso das die Jugend ausbaden soll. Es ist einfach nicht mehr zu fassen."
Doch was denkt die Mehrheit der Jugendlichen? Als im Frühjahr mit der Debatte um die Wehrpflicht die Diskussion um die Einführung eines Pflichtjahres wieder aufflammte, sprach sich in einer Statista-Umfrage überraschend eine knappe Mehrheit von jungen Menschen für ein soziales Pflichtjahr aus. Unter den betroffen Jugendlichen im Alter von 18 bis 29 Jahren waren immerhin 45 Prozent für ein soziales Pflichtjahr und 41 Prozent dagegen.
Es gibt also trotz des heftigen Gegenwinds in Sozialen Medien durchaus einige junge Menschen, die ein Pflichtjahr befürworten würden. Meist werden der Dienst an der Gesellschaft und die persönliche Weiterentwicklung als Grund dafür genannt.
Doch statt einen Pflichtdienst einzuführen, werden Forderungen laut, das Ehrenamt, sowie Freiwilligendienste in Deutschland attraktiver zu gestalten. So würden sich Menschen von ganz alleine noch mehr engagieren.
Dies ist auch eine Forderung, die Theresia Crone unterschreiben kann: "In Deutschland schaffen wir es oft genug nicht, ehrenamtliches Engagement überhaupt anzuerkennen und zu würdigen. Es gibt nur in zwei Bundesländern überhaupt so etwas wie eine Ehrenamtskarte."
Die Ehrenamtskarte ist eine Art Ausweis, der als Nachweis für ehrenamtliches Engagement dient und bestimmte Vergünstigungen für die Besitzer und Besitzerinnen ermöglicht. Zum Beispiel bei Fahrkarten, beim Zugang zu Museen oder anderen öffentlichen Einrichtungen sowie Vergünstigungen bei Kooperationspartnern.
Theresia glaubt, dass positive Anreize viel besser funktionieren als Zwang. Sie schlägt vor, das FSJ besser zu gestalten, mehr dafür zu bezahlen und auch an den Schulen innerhalb der Berufsorientierung soziale Praktika zu machen. "Projekte, wo man soziales Engagement mit etwas Positivem verbindet."
Ihr Appell an die Politik: "Macht halt Ehrenamt attraktiver, schätzt das, baut nicht so viel Barrieren auf und dann machen das auch von allein mehr Menschen."
(mit Material der dpa)