Pessimismus, Panikmache, Schwarzmalerei: Gesundheitsexperte Karl Lauterbach von der SPD muss sich seit Beginn der Corona-Pandemie von sämtlichen Seiten anhören, dass seine Warnungen vor dem Virus an Übertreibung grenzten. Und zugegeben, ein rosiges Bild unserer Gegenwart oder nahen Zukunft zeichnet der Mediziner und Gesundheitsökonom nicht unbedingt.
So sagte er jüngst bei "Hart aber fair", dass unsere "Schulen leider miserabel vorbereitet (sind) für das, was da kommen wird". Oder dass es naiv sei, zu glauben, ein Szenario, wie es sich gerade in Spanien abspielt, würde uns erspart bleiben. Dementsprechend harsche Kritik erntete er beispielsweise vom Kabarettisten Didi Hallervorden, der am Montag bei "Hart aber fair" sagte:
Watson hat mit Lauterbach über die Kritik an ihm und die angespannte Stimmung während der Corona-Debatten gesprochen, aber auch darüber, wie es nun in den kalten Jahreszeiten weitergehen soll.
watson: Bei "Hart aber fair" und einigen anderen Medien wurden Sie von den anderen Talkshow-Gästen wegen Ihrer Haltung zu den Corona-Maßnahmen teils harsch kritisiert. Können Sie den Unmut nachvollziehen?
Karl Lauterbach: Durchaus. Ich fand die Sendung übrigens auch deswegen interessant, weil die Fragen in der Sendung auch in der Öffentlichkeit allgemein vorhanden sind. Als Susanne Gaschke von der "Welt" beispielsweise sagte, die Maßnahmen gegen das Coronavirus sollten stets gerechtfertigt sein, ist das ein legitimer Vorwurf. Gleichzeitig sind solche Sendungen eine gute Gelegenheit, um Missverständnisse aufzuklären. Beispielsweise ging es um den Zusammenhang von schlechtem Wetter und steigenden Corona-Fallzahlen. In diesem Zusammenhang geht es darum, dass man sich bei schlechtem Wetter eher in Innenräumen aufhält und das ein höheres Ansteckungsrisiko birgt, wie die meisten großen Ausbrüche in der Vergangenheit bewiesen haben.
Und wie gehen Sie mit solchen kritischen Aussagen gegen sich um?
Solche Missverständnisse aufzuklären und in die Diskussion zu gehen – damit muss man als Wissenschaftler und auch Politiker klarkommen. Das ist mein Job, dafür werde ich bezahlt und es sind meine Überzeugungen. Was ich sage, muss allerdings inhaltlich und auch in der Tonlage stimmen, weder über- noch untertrieben sein. Ansonsten glaube ich, dass vieles, was in der Sendung vorgetragen wurde, die Hoffnung ist, dass Corona nun endlich vorbei ist. Und diese Hoffnung kann ich sehr gut verstehen, sie ist aber leider keineswegs berechtigt.
In der Sendung wurde Ihnen von Didi Hallervorden "Panikmache" vorgeworfen. Was entgegnen Sie diesem Vorwurf?
Ich möchte fragen, womit genau ich Panik verursachen würde. Denn ich beschreibe Möglichkeiten, wie wir eine zweite pandemische Welle beherrschen können – und zwar mit dem Ziel, die Ruhe bewahren zu können. Konkrete und konstruktive Vorschläge zu nennen, hat nichts mit Panik zu tun. Das ist vergleichbar mit einem Arzt, der seinem Patienten sagt, er müsse die Ernährung umstellen, um nicht krank zu werden. Auch das ist eine konkrete Maßnahme.
Andererseits kann ich Herrn Hallervorden nachvollziehen. Als Theatermacher will er natürlich darum kämpfen, weiterhin Theater machen zu dürfen, und zwar idealerweise ohne Masken. Aber das geht momentan noch nicht.
Massenveranstaltungen wie die Partys in der Hasenheide in Berlin oder Anti-Corona-Demos gelten als potenzielle Superspreader-Events. Die großen Ausbrüche bei diesen Gelegenheiten sind allerdings ausgeblieben. Könnten die Warnungen dann verwirrend auf die Bevölkerung wirken und eher eine Corona-Müdigkeit begünstigen?
Das glaube ich nicht. In den vergangenen Monaten gab es glücklicherweise nur vereinzelt Massenveranstaltungen, bisher ist alles relativ gut gegangen und es gab nur wenige Infizierte. Das wird sich in den kalten Jahreszeiten allerdings ändern, die große Gefahr lauert aber nicht draußen, sondern drinnen. Draußen ist es vor allem dann riskant, wenn man eng zusammensteht und über längere Zeit laut miteinander spricht. In Innenräumen, in denen wir uns nun vermehrt aufhalten werden, verteilt sich das Virus aber leichter. Zudem müssen wir bedenken, dass es mittlerweile mehr Infizierte gibt als noch vor wenigen Wochen, dementsprechend steigt auch das Risiko, auf eine infizierte Person zu treffen. Die Aufgabe der Epidemiologen ist auch, das Infektionsgeschehen im Kontext zu erklären und zu erläutern, warum ein und dieselbe Art von Veranstaltung jetzt gefährlicher sein könnte als vor zwei Monaten beispielsweise.
Zu Beginn der Krise schien es einen ganz schönen Hype um Virologen wie Christian Drosten oder Hendrik Streeck gegeben zu haben. Wurden sie von der Öffentlichkeit überschätzt?
Nein, das glaube ich nicht. Die Virologen und Virologinnen hierzulande verfügen über eine sehr hohe Sachkompetenz und wir können uns sehr glücklich schätzen, dass sie mit ihrem Wissen an die Öffentlichkeit getreten sind. Das hat uns allen sehr geholfen. Die meisten Aussagen waren auch absolut zutreffend und haben uns dabei unterstützt, über die erste Welle hinwegzukommen. Ich hoffe, das wird bei der zweiten Welle nun so bleiben.
Glauben Sie, dass medizinische Experten nach mehreren Monaten Pandemie ein geringeres Ansehen genießen als zu Beginn?
Die breite Bevölkerung hat nach wie vor viel Vertrauen in die Wissenschaftler, deren Aussagen genießen nach wie vor eine große Zustimmung. Die überwiegt die zweifelnden Stimmen dramatisch. Auch identifizieren sich die meisten Menschen in Deutschland mit den Maßnahmen gegen das Coronavirus.
Während der Corona-Krise wurden Sie nicht nur kritisiert, sondern teilweise auch bedroht. Erst am Dienstag ist ein Päckchen vor dem Bundestag aufgetaucht, das an Sie adressiert war und sich dann glücklicherweise als Werbematerial entpuppte. Sind Sie mittlerweile vorsichtiger geworden? Befürchten Sie, dass angesichts der Lage weitere Drohungen auf Sie zukommen könnten und wie gehen Sie damit um?
An dieser Stelle möchte ich sagen: Ich erhalte um ein Vielfaches mehr Zustimmung als Kritik oder Drohungen, das ist für mich besonders relevant. Dass man ab und zu bedroht wird, gehört zu meinem Beruf dazu. Zwar haben die Drohungen in den vergangenen Monaten während der Pandemie zugenommen, aber das beeindruckt mich nicht, weil es ein Preis meiner Aufgabe ist.
Immer noch finden regelmäßig Demonstrationen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus statt. Wie groß schätzen Sie die Gefahr ein, die von Corona-Leugnern ausgeht?
Gering. Was die Corona-Leugner von sich geben, ist zwar unangenehm und deren Radikalisierung bedenklich, aber ich denke nicht, dass sie den Verlauf der Pandemie beeinflussen werden. Von so einer kleinen Minderheit darf man sich nicht erpressen lassen, es handelt sich hierbei eher um ein Management-Problem. Es ist auch richtig und wichtig, dass die Menschen weiterhin demonstrieren dürfen, sofern sie sich an die Regeln halten, wie Maske tragen und den Abstand wahren. In diesem Zusammenhang bin ich übrigens sehr dankbar für die Polizei und Ordnungskräfte hierzulande, die sich dafür einsetzen, dass die Demonstrationen regelkonform ablaufen, die Einsatzkräfte machen gerade einen fantastischen Job.
Teilen Sie die Meinung der FDP-Politikerin Karoline Preisler, dass einige Corona-Maßnahmen nicht notwendig gewesen wären? Und wenn ja, welche?
Die meisten Maßnahmen haben geholfen, es war richtig, sie einzusetzen, und zwar ohne Wenn und Aber. Welche unnötig waren, kann ich nicht sagen. Ich weiß, bei welchen Aussagen ich selbst falsch lag, beispielsweise bei der Einschätzung zu Geisterspielen im Fußball: Anfangs habe ich von den Geisterspielen abgeraten, weil sie ein zu großes Ansteckungsrisiko für die Spieler bergen könnten. Meiner Empfehlung zugrunde lag eine US-amerikanische Studie, die sich im Nachhinein als methodisch minderwertig erwiesen hat. Dementsprechend habe ich meine Aussage dazu korrigiert.
Welche Aussagen werden Ihnen noch als falsch angelastet?
Zum Beispiel, dass es nicht notwendig gewesen wäre, die Schulen zu schließen. Dem widerspreche ich allerdings: Denn für Schulschließungen wurde gezeigt, dass sie die Infektionszahlen signifikant senken konnten. Auch wird kritisiert, dass es notwendig gewesen wäre, die Pflegeheime für Besucher zu schließen. Und ja, man hätte die Bewohner möglicherweise auch anders schützen können – allerdings hätten wir dann wahrscheinlich auch mehr Todesopfer zu verzeichnen. Wir haben uns in Deutschland damals für ein relativ hohes Maß an Sicherheit entschieden, was man nachträglich nicht zurücknehmen muss und natürlich auch nicht kann. Der Lockdown war im europäischen Vergleich auch recht milde und wir haben viel damit erreicht. Es werden nun auch nicht mehr so strenge Maßnahmen notwendig sein wie im Frühjahr, weil wir jetzt über ganz andere Möglichkeiten verfügen.
Auf welche Corona-Maßnahmen können wir in diesem Herbst und Winter absolut nicht verzichten? Welche sollten wir noch verschärfen?
Ich plädiere dafür, dass private Veranstaltungen auf 25 Personen reduziert werden sollten. Auf öffentlichen Plätzen, auf denen die Abstände nicht gewährleistet sind und Menschen laut miteinander sprechen, sollte eine Maskenpflicht gelten. Auch wäre es ratsam, das Cluster-Modell der Nachverfolgung von Kontakten Infizierter durch die Gesundheitsämter nach japanischem Vorbild in Deutschland einzuführen. Dabei werden die Kontakte einer infizierten Person gleich vom Gesundheitsamt analysiert, um Infektionsketten nachvollziehen und unterbrechen zu können. Weiterhin sollten die Schulen auf den Herbst vorbereitet und die Klassenräume wo nötig mit Lüftungsanlagen ausgestattet sowie Vorbereitungen für das Homeschooling getroffen werden.
Angesichts der steigenden Fallzahlen: Werden wir Ihrer Ansicht nach zu unvorsichtig?
Ich befürchte eher, dass wir nicht schnell genug vorsichtig werden. Wenn das Wetter nun kippt, es draußen kalt wird und wir uns in Innenräume zurückziehen, kann alles sehr schnell gehen mit der erneuten Ausbreitung des Virus. Was wir in anderen Ländern wie Spanien oder Frankreich gerade erleben, könnte uns auch ereilen – es hängt davon ab, wie schnell wir bereit sind, zu handeln. Deswegen ist es mir nun besonders wichtig, die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, wie sich die Pandemie in den vergangenen Wochen und Monaten entwickelt, was sich verändert hat, und auch deutlich zu machen: Wir müssen uns leider ein Stück weit wieder von der Normalität verabschieden. Und genau das muss man immer wieder erklären, faktengestützt und ohne Schaum vor dem Mund, da darf man jetzt nicht müde werden.
Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass wir einen zweiten Lockdown durchmachen werden müssen? Glauben Sie, die Bevölkerung wird sich noch einmal so konsequent an die Maßnahmen halten wie im Frühjahr?
Die Wahrscheinlichkeit, noch einmal so einen Lockdown wie vor ein paar Monaten zu erleben, halte ich für gleich null. Die breite Bevölkerung ist zu sehr alarmiert und sensibilisiert für das Thema. Sie hat begriffen, wie gefährlich Covid-19 sein kann, welche Langzeitschäden nach der Krankheit drohen, und dementsprechend werden die Menschen bereit sein, zeitnah Maßnahmen zu ergreifen, um das Schlimmste zu verhindern. Die Bevölkerung wird größtenteils freiwillig tun, was notwendig ist, um einen weiteren Lockdown zu vermeiden, da bin ich absolut sicher.
Und wann rechnen Sie mit einem Impfstoff, der die Pandemie endgültig beendet?
Anfang des kommenden Jahres. Da bin ich sehr optimistisch.