Politiker besuchen ständig Betriebe, um sich über die Arbeitsbedingungen und Erfordernisse der Branche zu informieren: So sah man Minister und Ministerinnen schon in Molkereien, Kliniken und Schulen. Der Bundesverband Sexuelle Dienstleistungen e.V. (BSD) hat nun Gesundheitsminister Jens Spahn in einem öffentlichen Brief ins Bordell eingeladen. Sie wollen "die Gelegenheit nutzen und Ihnen umfassend Einblicke in die Vielfalt unserer Branche geben", heißt es in dem Schreiben vom Montag. Man lade den CDU-Politiker daher zu einem Bordellbesuch ein und das – "selbstverständlich diskret".
Hintergrund der Einladung war eine Äußerung des Ministers in einem watson-Interview, in der er Bildungsstätten und Bordelle miteinander verglich. Für Stephanie Klee, Sprecherin des BSD, ein Beweis fehlender Sachkenntnis: "Entweder, er hat sich kein bisschen mit der Thematik beschäftigt – was doch eigentlich sein Job gewesen wäre – oder er wollte der Branche mit so einer Aussage nochmal einen mitgeben, um den Prostitutionsgegnern und -gegnerinnen seiner Partei einen Gefallen zu tun", sagte sie dazu als Reaktion.
Die Sexworkerinnen und Bordellbesitzer und -besitzerinnen im Verband wünschen sich, dass die Politik mit ihnen in den Dialog tritt, um Lösungen für aktuelle Probleme der Branche zu finden, wie zum Beispiel eine fehlende Krankenversicherung bei einigen Sexworkerinnen. Zu oft würde über, aber nicht mit ihnen gesprochen, kritisierten die Verbände der Sexworker in den vergangenen Jahren immer wieder.
Ein parteiübergreifendes Problem: Erst vergangenen Freitag hatte zum Beispiel eine Podiumsdiskussion der SPD Baden-Württemberg unter dem Titel "Freiheit und Verantwortung – Prostitution im Fokus" stattgefunden, in dem man "die verschiedenen Ansätze, Blickwinkel und Probleme" des Rotlichtgewerbes diskutieren wollte. Sexworkerinnen waren nicht eingeladen, stattdessen debattierten zwei Politiker, eine Psychotraumatologin und ein Bischof miteinander.
In der Coronakrise hätten sich Politiker von "ihrer privaten, moralischen Haltung leiten lassen", anstatt sich mit den realen Arbeitssituationen auseinanderzusetzen, glaubt Klee. So würde Sex zwischen Prostituierten und Freiern derzeit nur im Eins-zu-Eins-Kontakt erlaubt und würde maximal 30 Minuten dauern, was mit dem Infektionsrisiko bei einer Massage vergleichbar wäre. Für das Rotlichtmilieu hätten dennoch oft strengere Regeln gegolten als für vergleichbare körpernahe Dienstleistungen. Vielerorts durften Bordelle erst wieder öffnen, nachdem sie vor Gericht Gleichberechtigung erstritten.
Die Einladung, die an Pressevertreter und die Ministerien geschickt wurde, sei "absolut ernst gemeint", bestätigt Elke Winkelmann, selbst Bordellbesitzerin aus Berlin auf watson-Anfrage. "Wir haben schon oft Politiker und Politikerinnen bei uns gehabt, weil viele überhaupt keine Ahnung von Sexarbeit haben." Mit Ausstellungen und Tagen der offenen Tür würde man versuchen, eine Transparenz zu schaffen und aufzuklären. Wie ein Bordellbesuch unter Corona-Richtlinien läuft, hatte sich auch watson im August 2020 angeschaut.
"Viele stellen nach einem Besuch fest, dass ihre Fantasie nichts mit der Realität im Bordell zu tun hatte", so Winkelmann. Welche Politiker schon zu Besuch waren, verrät sie nicht, da viele sich scheuen, eine Stippvisite öffentlich zuzugeben – und sei sie noch so unschuldig.
Auch Spahn soll natürlich "nicht als Kunde in ein Bordell gehen, sondern sich hier sachkundig machen", wie der Verband auf Facebook noch einmal klarstellt. "Hätte er dies getan, hätte er auch nicht den blödsinnigen Vergleich zwischen Kitas und Bordelle gezogen." Ob sich der Gesundheitsminister dafür Zeit nehmen wird, bleibt fraglich. Eine Antwort steht bislang noch aus.