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Sexworkerin wütend auf Jens Spahn: Eine "Frechheit", Schüler gegen Prostituierte "auszuspielen"

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Es würde viel über, aber selten mit ihnen geredet, bemängelt der Verband der Sexworker (Symbolbild)Bild: iStockphoto / Alexey87
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"Unsachlich" und eine "Frechheit": Sexworkerin antwortet auf Spahn-Aussage zu Bordellen

03.10.2021, 14:30
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Es gibt ein paar Branchen, die politisch recht wenig Fürsprecher finden, weil ihre Arbeit als moralisch umstritten gilt – allen voran die Prostitution. Ob und in welcher Form sie in Deutschland überhaupt existieren sollte, ist sowohl in der Bevölkerung als auch unter Abgeordneten schwer umstritten.

Daher eignet sich das Thema auch wunderbar, um im Wahlkampf ein paar Stimmen zu ergattern, dachte sich offenbar Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), der im watson-Interview zu einem Seitenhieb gegen die Branche ansetzte und die Bordellöffnungen im Sommer 2020 als Beispiel unerklärlicher Corona-Entscheidungen anführte, die er dann mit der Schließung von Schulen verglich.

Die Bordell-Aussage von Jens Spahn

watson: Trotzdem entsteht bei vielen der Eindruck, dass die Interessen junger Menschen weniger wert sind.

Jens Spahn: Ich verstehe, dass dieser Eindruck manchmal entsteht. Wir wurden ja teilweise durch Gerichtsurteile zu Maßnahmen gezwungen, die nur schwer verständlich waren. So mussten wir zum Beispiel die Bordelle wieder aufmachen, während die Schulen noch geschlossen waren. Das kann man Schülerinnen und Schülern schwer bis gar nicht erklären. Oft wurden in solche Entscheidungen Wertungen reingelesen, die es überhaupt nicht gab.
Auszug aus dem watson-Interview

Es ist eine Aussage, die Stephanie Klee wütend macht. Die Berlinerin ist selbst Sexworkerin und Vorstand im Bundesverband Sexuelle Dienstleistungen e.V. (BSD). Seit Anfang der 1970er Jahre setzt sie sich für die Rechte von Prostituierten ein und glaubt, dass die Coronakrise politisch genutzt wurde, um die Arbeit ihrer Kolleginnen Stück für Stück zu illegalisieren. Mit watson sprachen wir mit ihr darüber.

Sie sagt:

"Uns mit Absicht in diesen Kontext zu stellen und gegen die Gesellschaft und ihre Kinder auszuspielen, ist eine Frechheit."

watson: "So mussten wir zum Beispiel die Bordelle wieder aufmachen, während die Schulen noch geschlossen waren", bedauert Jens Spahn in einem watson-Interview. Wie finden Sie diese Aussage als Vertreterin der Branche?

Stephanie Klee: Interessant. Herr Spahn hat offenbar keine Mühe gehabt, uns als Beispiel anzubringen, obwohl er nicht einmal danach gefragt wurde. Diese Haltung scheint also tief in ihm zu stecken. Sicher ist er auch noch im Wahlkampfmodus gewesen, dass er so in Stimmung war, rechts und links auszuteilen. Uns mit Absicht in diesen Kontext zu stellen und gegen die Gesellschaft und ihre Kinder auszuspielen, ist allerdings eine Frechheit.

Wieso eine Frechheit?

Weil es unsachlich ist und Stimmung gegen uns macht. Schulen, an denen viele Kinder über Stunden zusammenkommen, lassen sich überhaupt nicht mit Bordellen vergleichen. In der Regel ist der Kunde nur 15 bis 30 Minuten zu Besuch und das auch nur im Eins-zu-Eins-Kontakt. Ich vermute, Herr Spahn ist noch nie in einem Bordell gewesen und er hat sich auch nicht die seitenweisen Erläuterungen zu unserer Branche angesehen, die wir ihm – wie auch anderen Ministern – im Zuge der Pandemie vorgelegt haben...

Sie halten den Gesundheitsminister in puncto Sexarbeit für ignorant?

Entweder, er hat sich kein bisschen mit der Thematik beschäftigt – was doch eigentlich sein Job gewesen wäre – oder er wollte der Branche mit so einer Aussage nochmal einen mitgeben, um den Prostitutionsgegnern und -gegnerinnen seiner Partei einen Gefallen zu tun. In beiden Fällen kann ich nur sagen: Ich wünsche Herrn Spahn, dass er jetzt sehr lange auf der Oppositionsbank sitzen bleibt.

Im Satz zuvor bedauert er es, dass die Politik "durch Gerichtsurteile zu Maßnahmen gezwungen" worden sei. Damit bezieht er sich auf die Klagewelle im Spätsommer 2020, nach der viele Bordelle unter Auflagen wieder öffnen durften.

Bis auf die Clubbetreiber waren Sexworker und Bordellbesitzer wohl die einzigen, die eine Öffnung ihrer Branche in der Pandemie so vehement juristisch erstreiten mussten. Wir forderten damals Gleichberechtigung und die Richter stimmten uns zu. Eigentlich hätte das den Politikern doch ein Zeichen sein sollen, dass ihre Einschätzung falsch war. Im Nachgang zu bedauern, man sei von deutschen Gerichten zur Korrektur "gezwungen" worden, ist für einen Politiker der Bundesregierung eine seltsame Rechtsauffassung und zeigt: Die Politik hat sich unter Corona von ihrer privaten, moralischen Haltung leiten lassen, um uns auszubremsen. Wie mit uns umgegangen wurde, war in höchstem Maß unsachlich.

"Ich wünsche Herrn Spahn, dass er jetzt sehr lange auf der Oppositionsbank sitzen bleibt."

Nun ist es aber schon verständlich, dass in der Notlage eher auf Bordelle verzichtet wurde als auf Schulen oder Supermärkte...

Natürlich! Das war auch für uns Sexarbeiter nie eine Frage. Aber zu suggerieren, dass Vergnügen für das Seelenleben der Menschen gar keinen Stellenwert hat, ist falsch. Und was ein verzichtbares oder unverzichtbares Vergnügen ist, hat nicht die Moral der Politik zu entscheiden. Die Friseure waren so schnell wieder geöffnet, weil es für das Wohlbefinden der Menschen wichtig sei, hieß es oft. Auch Hoteliers und Künstler wurden ernstgenommen. Wenn die Minister es gewagt hätten, diese Berufsgruppen als komplett verzichtbar abzuwerten, wäre der Aufschrei groß gewesen.

Warum ist Sexarbeit denn Ihrer Meinung nach wichtig?

Unsere Branche ist derart tabuisiert, dass viele es nicht hören wollen, aber Sexualität ist für Menschen ein Grundbedürfnis und auch ein großer Stabilitätsfaktor. Die Pause unter Corona hat uns deutlich gezeigt, welche Auswirkungen der Wegfall von Intimität und Sex für unsere Kunden hatte. Die Menschen waren isoliert und einsam, einige haben enorm darunter gelitten und uns dramatische Nachrichten geschrieben, bis hin zu Suizidgedanken.

Das Image der Branche war aber auch schon vor Corona nicht das Beste.

Ich bin schon so lange als Sexarbeiter-Aktivistin unterwegs und erinnere mich, dass es durchaus Momente gab, in denen sich die Politik zumindest mal zum Gespräch mit uns zusammengefunden hat. Doch schon bei der Debatte um das Prostituiertenschutzgesetz 2017 wollten die Entscheider auf Bundesebene nicht mehr mit uns reden. Die Coronakrise wurde von Prostitutionsgegnern politisch genutzt, um unsere Arbeit immer weiter zu verunmöglichen.

"Was ein verzichtbares oder unverzichtbares Vergnügen ist, hat nicht die Moral der Politik zu entscheiden."

Wie meinen Sie das?

Es begann mit dem Offenen Brief von 16 Abgeordneten der SPD und CDU, die bereits im ersten Lockdown forderten, man solle die Bordelle doch einfach für immer zulassen und Sexarbeit komplett abschaffen. Es ging weiter mit den unendlich langen Bordell-Schließungen, die dazu geführt haben, dass hunderte Frauen illegal auf der Straße ihr Geld verdient haben, wo sie Gewalt und schlechten Hygienebedingungen ausgesetzt waren. Und nun, kurz vor der Sommerpause und am letztmöglichen Sitzungstag, hat der Bundesrat in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die "Freierstrafbarkeit" verschärft. Die ganze Branche weiß: Wir müssen uns warm anziehen. (Anm. d. Red. Der BSD lehnt die in der Gesetzesänderung vorgesehene Pflicht, dass sich Kunden die Anmeldung der Prostituierten nachweisen lassen sollen aus Datenschutzgründen ab. Man mache den Kunden so "zum verlängerten Arm der Überwachungsbehörde".)

Glauben Sie denn, dass die neue Bundesregierung eine neue Haltung zur Sexarbeit aufweisen könnte?

Wir kamen in kaum einem Wahlprogramm überhaupt vor, was uns nur bestätigt, dass wir wohl für keine Partei einen großen Stellenwert haben. Eine Ausnahme war hierbei die CDU/CSU, die verkündeten, sie würden gern das "Nordische Modell" einführen, also ein Prostitutionsverbot nach schwedischem Vorbild. Das überrascht uns natürlich nicht. Ich habe die deutsche Politik noch nie so ablehnend uns gegenüber erlebt, wie jetzt. Wir waren zwar immer die Schmuddelkinder, die am Rand agieren mussten, aber zumindest wurden wir auch mal angehört, wenn es um unsere Branche ging. Das geschieht momentan eigentlich nur noch auf Länderebene.

Die neue Bundesregierung steht ja noch nicht fest. Könnte es nicht sein, dass Sexarbeiter im Anschluss zu einem runden Tisch eingeladen werden?

(lacht schallend) Das ist süß. Wir würden uns sehr darüber freuen, aber momentan sehe ich das wirklich nicht kommen. Dabei wäre es bitter nötig. Die Erfahrung zeigt: Wenn die Politik Regelungen beschließt, die an den Erfordernissen der Branche vorbeigehen, sind diese wertlos. Sie werden schlicht unterwandert. Außerdem gäbe es viele Themen, die dringend besprochen werden müssen.

"Ich habe die deutsche Politik noch nie so ablehnend uns gegenüber erlebt, wie jetzt."

Was denn zum Beispiel?

Die Krankenversicherung der Sexarbeiter. Corona hat aufgezeigt, wie viele von ihnen nicht ordentlich versichert sind, weil sie sich die private Krankenversicherung nicht leisten können oder die Auflagen beim Eintritt nicht erfüllen. Das ist ein strukturelles Problem, was durch eine Bürgerversicherung oder auch durch die Künstlersozialkasse als Option ausgeglichen werden könnte. Ich denke, es gäbe Lösungsansätze – um diese zu finden, müsste die Politik allerdings mal mit und nicht über uns reden.

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